Die erste Kunst besteht darin, die Schlaufen des Anzugs richtig zu verknoten. Woher soll ein Anfänger das auch wissen? Terumitsu Taira hilft mir lächelnd nach, bis die schneeweiße Kluft nicht mehr rutscht.
Taira hat auf der Wiese vor dem Trainings- und Museumskomplex Okinawa Karate Kaikan zwei Zementblöcke aufgebaut und über den Zwischenraum ein Schichtwerk aus Dachziegeln gelegt: allerdings keine aus Ton, sondern brech- und wieder zusammensetzbare aus Hartplastik.
Es sei jedoch dieselbe Härte wie Tonziegel, versichert er. Dann legt er Handschuhe an und schreitet zur Demonstration. Taira tritt vor den Block, spannt den Körper an, holt zum Schlag aus und zerteilt Viere auf einen Streich. Der Kraftakt entlädt sich ganz ohne Urschrei, lautlos, geschmeidig. Dem soll ich nun nacheifern.
Ich denke an meine rechte Schreibhand, opfere die linke und reduziere den Stapel auf ein einziges Stück. Eine Kinderportion sozusagen. Doch auch die schlage ich noch stolz entzwei – der Beginn eines Selbstversuchs in der Urheimat des Karate.
„Karate ist vor Jahrhunderten hier in Okinawa entstanden“, sagt Yasushi Nakamura, der sich als Zuschauer auf der Wiese eingefunden hat. Er leitet das moderne Karatezentrum, das auf der Insel Okinawa unweit der Stadt Naha liegt. Nakamura ist Anfang 60. Karate macht er seit seinem fünften Lebensjahr.
Traditionelles Okinawa-Karate habe nichts mit Sportkarate zu tun hat, erklärt er. Im Vordergrund steht die einheitliche Stärkung von Körper und Geist, was die Übungsform Kata beispielhaft zeigt. Diese besteht aus festgelegten Bewegungsabläufen eines Verteidigungskampfs gegen einen imaginären Gegner.
„Nach einer Trainingseinheit fühle ich mich rundum klar“, sagt Nakamura, der beim Gang durchs Karatemuseum an stählerne Sandalen heranführt. Damit stärkten frühe Karateka die Muskeln.
Obgleich Dokumente fehlen, ist bekannt, dass in Okinawa seit jeher eine eigene Kunst der Selbstverteidigung existierte, Ti genannt. Zu Zeiten, als die Inselwelt von Okinawa das eigenständige Königreich Ryūkyū bildete (1429-1879), kamen Einflüsse aus anderen Ländern Asiens hinzu. Daraus entwickelte sich Karate, das heute weltweit schätzungsweise von 130 Millionen Anhängern praktiziert wird, wie es im Museum heißt.
2021 in Tokio war Karate erstmals olympisch; in der Disziplin Kata gewann Ryō Kiyuna die Goldmedaille. Er stammt aus Okinawa und schaut gelegentlich zum Training hier im Zentrum vorbei, wo man sich im Restaurant mit der Nudelsuppe „Okinawa Soba“ stärken kann. Die Meeresalge obendrauf hat die Form des schwarzen Gürtels.
Echte Träger von schwarzen Gürteln warten beim zweiten Akt des Selbstversuchs in der Trainingshalle. Es sind der 79-jährige Zenpo Shimabukuro, der den höchsten Meistergrad besitzt, und sein Sohn Zenei, 35 Jahre alt. Die Grund- und Atemtechnik sind das eine, der Blick in die Seele ist eine andere Sache, lerne ich. Karate gehört für beide zur Lebensform, drückt Demut und Wertschätzung aus.
„Es gibt keinen ersten Angriff im Karate, nur Verteidigung“, sagt Zenei, der als Elektriker arbeitet: „Karate ist nicht dazu da, um zu kämpfen, sondern um die Menschen, die ich liebe, beschützen zu können.“ Vater Zenpo, noch aktiv als Immobilienmakler, ergänzt: „Bei uns kennt man keine Gewinner oder Verlierer. Das ist wie Schattenboxen.“ Deshalb könne man es auch für sich allein machen.
Im Crashkurs unterweisen mich Zenpo und Zenei in Hand- und Fußstellungen, mahnen angewinkelte Knie und den Einsatz der Hüfte an, korrigieren unermüdlich. Geduld ist ohnehin eine japanische Tugend. „Stell' dir einen Gegner vor, der dich attackiert und den du nun abwehrst“, gibt Zenei vor.
Bei den Bewegungen der Hände frontal hin und zurück lerne ich, dass eine vor schnellt und die andere am Körper bleibt. Dadurch erreicht man größere Schnellkraft, mehr Effektivität. Das beansprucht Muskeln, die ich nie zu haben glaubte, und wird einen Kater nach sich ziehen.
Plötzlich animiert mich Zenpo, seinen Arm, den er schräg über meinem Kopf hält, wegzuschlagen. Eine Erfahrung, die schmerzt und verblüfft: Der Arm des Endsiebzigers ist pures Eisen.
Der Selbstversuch endet, wie er begonnen hat: mit einer Verbeugung voreinander. „Karate ist immer von Respekt geprägt“, sagt Zenpo, den ich am Ende mit einem Widerspruch konfrontiere, den er nicht so recht auflösen kann.
Japaner habe ich auf meinen Reisen stets als herzliche, friedliebende, nicht aggressive Menschen erlebt. Niemand hupt im Straßenverkehr. Keiner drängelt oder flucht in der Öffentlichkeit. Das Land ist sicher, die Kriminalität gering.
Das führt zur Frage: Kann es überhaupt passieren, sich hier irgendwo gegen irgendwen verteidigen zu müssen? Und damit grundsätzlich: Braucht es hier die Karatekunst? Vater und Sohn denken angestrengt nach. Dann ergreift Zenei das Schlusswort: „Ich trainiere Geist und Körper und fühle dadurch, dass ich gesund bleibe. Aber mein Ziel ist es, bis ich sterbe, Karate nie einsetzen zu müssen.“
An- und Einreise: Flüge nach Okinawa ab Frankfurt am Main oder München über den Flughafen Tokio-Haneda. Deutsche Staatsangehörige benötigen für die Einreise einen gültigen Reisepass. Noch gültige Kinderreisepässe - diese Dokumente werden seit Anfang 2024 nicht mehr neu ausgestellt - werden nach Angaben des Auswärtigen Amtes ebenfalls anerkannt.
Karate zum Nacherleben: Im Zentrum Okinawa Karate Kaikan (https://karatekaikan.jp/en) kostet der Schnupperkurs im Dachziegel-Zerschlagen („Kawara-Wari Experience“) 2000 Yen pro Person, umgerechnet etwa 12,50 Euro (Stand: Mitte Februar 2024); enthalten ist der Museumsbesuch, der sonst allein 310 Yen (knapp 2 Euro) Eintritt kostet. Ein zweistündiger Karate-Crashkurs kostet für einen Einzelteilnehmer 7000 Yen (43,30 Euro), bei zwei bis vier Teilnehmern je 5000 Yen (31 Euro).
Weitere Anbieter, Touren, Kurse und Seminare bündelt die Website http://karate.ocvb.or.jp
Weitere Auskünfte unter http://visitokinawajapan.com sowie bei der Japan National Tourism Organization (JNTO) (https://www.japan.travel/de/travel-directory/Okinawa%20Karate/).
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