Der Weg ist schon ausgetreten, eine Staubwolke steigt auf, als die rund 350 Schafe loslaufen aus dem Pferch. Seit zwei Tagen werden die Tiere von immer neuen Schäfern durch den Parcours geführt. „Du musst aufpassen, die Tiere drücken Dich, lass sie nicht vor Dich kommen“, sagt Florian Hirsch mit bayerischem Akzent. Marie-Kathleen Tigges nickt. Sie ist schon im Tunnel. Sie hat die letzte Startnummer gezogen.
Das Bundeshüten ist die Deutsche Meisterschaft für das Schafehüten. Elf Schäfer sind als Vertreter ihrer Bundesländer am Wochenende bei Dessau-Roßlau in Sachsen-Anhalt angetreten, um zu zeigen, wie sie und ihre Hunde harmonieren. Oder besser gesagt: Zehn Schäfer und eine Schäferin: Marie-Kathleen Tigges.
„Ich hatte hier bei den Wettbewerben noch nie den Fall, dass ich von anderen Schäfern belächelt worden bin“, sagt die 30-Jährige aus dem Sauerland. Schäfer seien sowieso ruhigere Menschen, da komme nur mal so ein „Kontaktbrummen“. Schwieriger sei es da schon eher mit den Tieren. „Wenn man einen Beruf ausübt, der sehr männerdominiert ist, dann kann es passieren, dass die Schafe noch nie einer Frau folgen mussten. Schafe kennen die Stimme ihres Herrn.“
Zweimal ist Tigges schon beim Bundeshüten angetreten - bisher eher mit mäßigem Erfolg. „Hauptsache nicht letzter werden“, sagt sie. „Ich will es mir auch selbst beweisen.“ Die Ehrung sollte noch am Sonntagnachmittag über die Bühne gehen.
Ein Schäfer, zwei Hunde und rund 350 Schafe. Zuerst müssen sie aus dem Pferch geholt werden, dann geht es über einen ausgetretenen Pfad über die weite Wiese. Dann grasen in einem kleinen Viereck, weiter den Weg entlang, über eine improvisierte Brücke, grasen in einem weit gesteckten Rechteck, wieder zurück, vorbei an einem fahrenden Auto. Die Kommandos fliegen über die Wiese, die Hunde flitzen um die Herde.
„Es kommt auf das Zusammenspiel zwischen dem Schäfer, seinen Hunden und der Herde an“, sagt Mario Wehlitz, Vorsitzender des ausrichtenden Verbands in Sachsen-Anhalt. „Man weiß nie, wie es wird, es kann so viel passieren.“ Es ist seine Herde, die er an diesem Wochenende für den Wettbewerb zur Verfügung gestellt hat.
Mit 16 fängt Tigges die Lehre als Schäferin an. Damals lebt sie noch in Niedersachsen. „Ich hab' mich für die Schäferei entschieden, weil es die natürlichste Form der Tierhaltung ist“, sagt sie. Dazu der Gedanke, Landschaftspflege zu betreiben, wirklich etwas zu tun für die Natur. „Außerdem: Schäfer strahlen eine unglaubliche Ruhe aus.“ Man müsse schon sehr mit sich im Reinen sein, wenn man die ganze Zeit allein ist. Das halte auch nicht jeder aus, mit sich und seinen Gedanken. Wobei sie nicht ganz allein ist: Ihre beiden Hunde Bruno und Pepsi hat sie dabei.
Dann öffnet sie das Gatter, geht durch die Herde. Nicht nur die drei Juroren schauen zu, auch mehrere Hundert Zuschauer sitzen am Rand der Wiese. „Kommkommakommmakommmakommm“, ruft sie kehlig, versucht die Stimme des Herdenbesitzers nachzuempfinden. Die Übungen laufen. Bei der Siegerehrung bekommt sie als beste Nachwuchsschäferin eine silberne Schüppe an einem Hirtenstab verliehen - und landet bei elf Teilnehmern überraschend auf Platz vier. Die goldene Schüppe bleibt in Sachsen-Anhalt bei Sieger Mario Wehlitz.
Irgendwann will sie hauptberuflich als Schäferin arbeiten. Es sei ihr Traumberuf, sagt Tigges und denkt an einen Satz, den der Großvater ihres Mannes immer gesagt habe: „Hast Du einmal Schafscheiße am Fuß, dann wirst Du die nicht mehr los.“
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