Tadej Pogacar war über sein erstes Gelbes Trikot bei der Tour de France seit fast zwei Jahren selbst überrascht.
Fragend schaute der slowenische Radstar nach der Klettershow auf der steilen Rampe zur Wallfahrtskirche nach San Luca seine Rivalen an, bis schließlich das komplizierte Reglement der Rundfahrt Klarheit schaffte. Denn der erste atemberaubende Schlagabtausch von Pogacar mit Titelverteidiger Jonas Vingegaard blieb auf italienischem Terrain ohne Sieger, lässt aber auf einen großen Kampf bei der 111. Tour de France hoffen.
„Ich bin froh, wieder in Gelb zu sein. Das fühlt sich gut an, auch wenn ich noch keinen Vorsprung habe. Es ist eine Bestätigung, dass ich in Form bin“, sagte Pogacar, der schließlich auf der nächsten schweißtreibenden Etappe bei Temperaturen von über 30 Grad nach 199,2 Kilometern mit der Favoritengruppe und 2:21 Minuten Rückstand hinter dem französischen Ausreißer-Sieger Kevin Vauquelin die Ziellinie überquerte. Zuvor war Pogacar wie entfesselt den letzten Anstieg hinaufgestürmt, doch sein großer Rivale Vingegaard ließ sich nicht abschütteln. Auf der Abfahrt schloss auch noch Mitfavorit Remco Evenepoel auf, sodass die drei Topstars momentan alle zeitgleich sind.
Doch warum trägt Pogacar nun Gelb? Bei zeitgleichen Fahrern gibt die bessere Platzierung den Ausschlag. Pogacar profitiert dabei von seinem vierten Platz am Samstag, Evenepoel hatte zum Auftakt den achten Rang eingefahren. Schon auf der Sprintetappe am Montag könnte sich alles wieder ändern. Pogacar übernahm die Gesamtführung vom französischen Auftaktsieger Romain Bardet, der 21 Sekunden verlor.
Pogacar und Vingegaard fahren aber in einer eigenen Liga, wie sich beim ersten Duell zeigte. Damit wischten beide Stars die Zweifel an ihrer Fitness erst einmal beiseite. Bei Pogacar hatte die Corona-Erkrankung vor gut zwei Wochen offenbar keine Spuren hinterlassen, und Vingegaard, der seit seinem schweren Sturz im Baskenland Anfang April keine Rennen mehr gefahren ist, scheint rechtzeitig in Form gekommen zu sein.
Entsprechend wertete der Däne, der vorerst Gesamtdritter ist, den Ausgang der Etappe als Sieg für sich: „Heute habe ich eigentlich damit gerechnet, Zeit zu verlieren. Heute ist ein kleiner Sieg für mich. Ich bin glücklich, dass ich zur selben Zeit wie er ins Ziel gekommen bin. Es ist schön, dass ich sagen kann, dass ich zurück bin.“
Es war das erste kleine Spektakel der 111. Tour. Auf dem 1,9 Kilometer langen und durchschnittlich 10,6 Prozent steilen Anstieg, der gleich zweimal überquert werden musste, ging Pogacar in den Angriffsmodus. Primoz Roglic vom deutschen Red-Bull-Team konnte nicht mehr folgen, dabei hatte der Slowene eigentlich gute Erinnerungen an den Aufstieg zum Heiligtum der Madonna mit seinen beeindruckenden 666 Säulengängen. 2019 hatte Roglic hier das Auftaktzeitfahren beim Giro gewonnen. Roglic liegt nun 21 Sekunden im Hintertreffen.
Bereits am Samstag hatte Pogacar, der als erster Radprofi seit Marco Pantani 1998 das Double aus Giro d'Italia und Tour schaffen könnte, auf der Berg- und Talfahrt nach Rimini „die Beine etwas angetestet“, beim vierten Platz aber die ersten Bonussekunden verpasst. Die Etappe sei nicht schwer genug, um Chaos anzurichten, lautete Pogacars Urteil. Dem konnte der leidende Altstar Mark Cavendish kaum zustimmen. Mit 39 Minuten Rückstand war der Ex-Weltmeister gerade noch in der Karenzzeit geblieben, nachdem er sich zwischenzeitlich übergeben hatte. Auch am Sonntag kam er wieder mit deutlichem Rückstand ins Ziel.
Zu schaffen machte den Fahrern wieder die große Hitze. Wie am Vortag zeigte das Thermometer zum Teil Temperaturen von weit über 30 Grad an. „Ich bin froh, dass ich viel Hitze-Anpassung in der Sauna gemacht habe. Das war sehr unangenehm, scheint aber geholfen zu haben. Ich habe mich gar nicht so schlecht gefühlt“, sagte Klassiker-Spezialist John Degenkolb, der gleich über den Doppelerfolg seiner beiden Teamkollegen Bardet und Frank van den Broek jubeln durfte.
Ansonsten traten die deutschen Radprofis - fast schon erwartungsgemäß - am schweren Auftakt-Wochenende kaum in Erscheinung. Mehr als ein Etappensieg dürfte für die acht Starter kaum drin sein. Am Montag auf der vermeintlich ersten Sprintetappe über 230,8 Kilometer von Piacenza nach Turin wird sich zeigen, ob Phil Bauhaus und Pascal Ackermann bei Massenankünften gegen hochkarätige Konkurrenz wie Sprintkönig Jasper Philipsen etwas ausrichten können.
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