Ein Bundespräsident, der sich Gedanken darüber macht, wie Wasser zu Wein wird. Ein CDU-Chef, der sich fragt, wie es nach dem Tod weitergeht - und ein bayerischer Ministerpräsident, der in der Bibel-Geschichte über Josef und seine Brüder vor allem „„Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ in der Bibel“ sieht.
Spitzenpolitiker haben den Evangelischen Kirchentag in Nürnberg, zu dem rund 70.000 Besucher kamen, auch dazu genutzt, ihre religiösen Gedanken zu formulieren. Der eine mehr, der andere sehr viel weniger fundiert. In Erinnerung bleiben wird der Kirchentag aber nicht, weil die Politiker sich von ihrer religiösen Seite zeigten - sondern die evangelische Kirche sich explizit politisch präsentierte und ganz anders, als man es von ihr kennt.
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine, das Umfrage-Hoch der AfD, der Klimawandel: All dies macht der Kirchentag zum Thema und gibt Spitzenpolitikern viel Raum, das auch zu tun.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) verteidigen den Asylkompromiss und ihre Außenpolitik im russischen Angriffskrieg, CDU-Chef Friedrich Merz wendet sich klar gegen jede Form von Appeasement-Politik Russland gegenüber. Alle drei bekommen am Samstag viel Applaus - ebenso wie am Vortag der Generalinspekteur der Bundeswehr, Carsten Breuer, mit seinem erwartbar klaren Ja zu Waffenlieferungen in das Kriegsgebiet.
„Ich habe mit bebendem Herzen gewartet, wie er begrüßt wird“, sagt Kirchentagspräsident Thomas de Maizière am Sonntag zum Abschluss der fünftägigen Veranstaltung. Das Kirchentagspublikum gilt traditionell als pazifistisch. Dass auch Breuer mit Applaus begrüßt worden sei, spreche für das offene und respektvolle Diskussionsklima.
Einige Politiker wären früher vielleicht eher ausgebuht worden, sagt auch die Generalsekretärin des Kirchentags, Kristin Jahn. „Ist vielleicht auch gut, dass sich da was ändert.“ Denn die gesellschaftlichen Herausforderungen seien groß und bräuchten ein Mit- und kein Gegeneinander.
Altbundespräsident Joachim Gauck greift das in einer Diskussionsrunde mit Baerbock auf und betont, Pazifismus sei eine wunderschöne Idee. „Leider hab ich aber lernen müssen, dass wir manchmal auch in einer romantischen Blase waren“, sagt er, und „dass es einen Unterschied gibt zwischen unseren schönen Visionen und Wünschen und dem, was politisch machbar ist“. Er betont: „Natürlich musst Du dem Überfallenen helfen. Was denn sonst?“ Das sieht er wie Baerbock, die sagt: „Auf der Seite des Angreifers zu stehen, ist für mich keine Option.“
Auch die große Herausforderung Klimawandel bekommt viel Platz auf dem Kirchentag: Die Aktivistin Luisa Neubauer ist zu Gast und wird fast gefeiert in den alten Mauern der Kirche St. Sebald. Und Carla Hinrichs von der Gruppe Letzte Generation sitzt zusammen mit Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) auf dem Podium.
Die Klimakrise ist für Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) aus Baden-Württemberg eine „Zeitenwende“. Auch er schafft den Spagat zwischen Bibel-Exegese und politischer Botschaft souverän und entlässt sein Publikum trotz der Herausforderungen durch den Klimawandel ziemlich hoffnungsvoll: „Die Zeit wird kommen - die Zeit ist schon gekommen.“
Der Kanzler freilich fühlt sich sichtlich wohler, wenn das Thema Kirche und Glaube abgehandelt ist und er nicht viel dazu sagen muss: Er ist evangelisch getauft und ausgetreten, erläutern mag er seine Beweggründe nicht. Nur so viel: Die Bibel habe er komplett gelesen und findet, das kulturelle Denken der Menschen sei davon geprägt.
Vergleichsweise klein fällt da die Zahl der Veranstaltungen zum Thema Missbrauch in der evangelischen Kirche aus - und das Interesse an der Hauptveranstaltung zum Thema zumindest auf den ersten Blick auch. Zur Podiumsdiskussion mit dem Titel „Missbrauch beim Namen nennen“ bleibt der Großteil der Sitze in der Halle leer.
Am Ende zeigen sich Kirchentagspräsident de Maizière und Heinrich Bedford Strohm, Landesbischof der gastgebenden bayerischen Landeskirche, hochzufrieden: „Die Stimmung war gelöst, die Herzen offen, der Verstand klar“, sagt de Maizière. „Wenn es gelingt, die harten und strittigen Themen auf diese Weise zu bearbeiten, dann hat dieser Kirchentag unserem Land gedient.“
Der nächste Evangelische Kirchentag ist in zwei Jahren in Hannover geplant.
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