Bei einem Bootsunglück im Ärmelkanal sind mindestens vier Menschen ums Leben gekommen. Das bestätigte die britische Regierung Mittag, nachdem in den frühen Morgenstunden ein Boot mit Migranten an Bord in dem Gewässer zwischen Frankreich und Großbritannien gekentert war. Der britische Premierminister Rishi Sunak sprach im Parlament von einem „tragischen Verlust von Menschenleben“.
43 Menschen sollen Medienberichten zufolge lebend aus dem kalten Wasser gerettet worden sein. Auf Bildern, die der Sender Sky News veröffentlichte, ist zu sehen, wie Menschen in der Dunkelheit aus einem überfüllten schwarzen Schlauchboot auf ein Rettungsboot klettern.
Der Skipper eines Fischerboots in der Nähe hörte in der Nacht Schreie. „Es war wie aus einem Weltkriegsfilm, überall im Wasser waren Menschen, schreiend“, erzählte der Mann namens Raymond dem Sender Sky News, nachdem er und seine Crew rund 30 Schiffbrüchige gerettet hatten. Die Geretteten aus Afghanistan, Irak, Senegal und Indien hätten ihm erzählt, rund 5000 Pfund (rund 5800 Euro) an einen Schleuser in Frankreich bezahlt zu haben.
Die Küstenwache koordinierte gemeinsam mit Militär, Polizei, den privaten Helfern und dem Grenzschutz eine Such- und Rettungsmission, bei der mindestens zwei Helikopter sowie britische und französische Rettungsboote im Einsatz waren. Die Suche nach Vermissten werde sich den weiteren Tag über hinziehen, berichtete Sky News. Aufgrund der kalten Temperaturen - in den vergangenen Nächten fielen diese in der Region in den Bereich der Minusgrade - werde jedoch nicht mehr nach Überlebenden gesucht.
„Dass jemand bei diesen Temperaturen diese Reise unternimmt, zeigt, wie verzweifelt die Leute sind“, sagte Alex Fraser vom britischen Roten Kreuz. „Niemand setzt sein Leben aufs Spiel, wenn er nicht das Gefühl hat, dass es keine andere Option gibt.“
Es ist nicht das erste Mal, dass der Ärmelkanal für jene, die auf der anderen Seite auf eine bessere Zukunft hoffen, zur Todesfalle wird: Vor gut einem Jahr waren bei einem Bootsunglück im Ärmelkanal rund 30 Menschen ums Leben gekommen.
Bis Mitte November hatten dem britischen Verteidigungsministerium zufolge in diesem Jahr bereits rund 40.000 Menschen die gefährliche Reise über den Ärmelkanal unternommen. Im vergangenen Jahr waren es rund 28.500 Menschen. Andere Routen - etwa über die Straße oder Schiene - werden nach Brexit und Corona-Beschränkungen aufgrund schärferer Kontrollen von Asylsuchenden seltener genutzt.
Premier Sunak hatte erst am Dienstag Pläne öffentlich gemacht, wie er noch härter gegen illegale Migration vorgehen will. Innenministerin Suella Braverman, die für ihre radikale Linie in Sachen Migration bekannt ist, kündigte im Unterhaus an: „Wir werden neue Gesetze einführen, die klarmachen, dass jemand, der illegal nach Großbritannien einreist, nicht hier bleiben darf.“ Jene Migranten müssten damit rechnen, in ihr Heimatland oder ein sicheres Land zurückgeführt zu werden. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR hat London bereits für diese Pläne kritisiert: Damit würden bis auf wenige Ausnahmen die Möglichkeit, Asyl zu beantragen, abgeschafft, was einen Bruch internationalen Rechts bedeuten würde.
Tim Naoir Hilton, Chef der Flüchtlingshilfsorganisation Refugee Action betonte, das Unglück sei „durch eine feindselige Politik der Regierung verursacht, die dafür geschaffen ist, Menschen aus dem Land zu halten anstatt ihnen Sicherheit zu geben.“
Die Kontrolle darüber zu gewinnen, wer unter welchen Bedingungen ins Land kommt, war eines der zentralen Versprechen des Brexits. Tatsächlich ist dies nach dem EU-Austritt für die Briten noch schwieriger geworden, da sie nicht mehr Teil der EU-weiten Regelungen für die Zuständigkeit von Asylverfahren sind.
© dpa-infocom, dpa:221214-99-896156/9