Als sich die Gitterstäbe der Transportbox öffnen, sieht Ben zum ersten Mal sein neues Zuhause. Der zwölf Jahre alte Orang-Utan schaut sich neugierig im Dschungel um. Blättergewirr und Bäume, es riecht nach Freiheit. Kurzentschlossen packt er eine Liane und klettert hoch. Nach langer Ausbildung im Waldkindergarten, der Waldschule und schließlich der Walduniversität der Stiftung BOS (Borneo Orangutan Survival) ist Ben endlich dort, wo er hingehört: im Regenwald von Borneo. Und er ist nicht irgendein Menschenaffe: Ben ist der 500. Orang-Utan, den BOS auswildert - ein Meilenstein.
Für die Betreuerinnen und Betreuer, die sich jahrelang um ihn gekümmert haben, ist es ein emotionaler Moment. „Aber das ist der normale Lauf, wenn Kinder erwachsen werden“, sagt Sri Rahayu Widiyanti, die Koordinatorin der BOS-Babysitter. „Und all unsere Schützlinge sind fast wie unsere eigenen Kinder.“
Ben ist an diesem Novembertag nicht der einzige „neue Wilde“ im Nationalpark Bukit Baka Bukit Raya in Zentral-Kalimantan, dem indonesischen Teil von Borneo. Mit ihm werden Lima und Gonzales in die Freiheit entlassen, zwei weitere Halbstarke, fast im gleichen Alter. Zudem lebt im Nationalpark auch Bens Mutter Nanga.
Die Primatin wurde 2006 aus einem Vergnügungspark in Thailand gerettet. Vier Jahre später brachte sie Ben in der Klinik des BOS-Rehabilitationszentrums Nyaru Menteng zur Welt. Aber Nanga war wegen der langen Jahre in Gefangenschaft mit dem Baby überfordert und konnte den Kleinen nicht richtig stillen. Schweren Herzens musste das Team die Entscheidung treffen, Mutter und Kind zu trennen, um Bens Überleben zu sichern. Nanga schaffte trotz großer Anfangsprobleme die Rehabilitation und lebt schon seit 2017 in Freiheit im Nationalpark.
Orang-Utan, das bedeutet „Mann des Waldes“. Die großen, rotbraunen Menschenaffen kamen einst in weiten Gebieten Südostasiens vor. Heute leben sie nur noch auf den Inseln Borneo und Sumatra. Schätzungen zufolge könnten sie in freier Natur in wenigen Jahrzehnten ausgestorben sein. Wilderei, Palmölplantagen und Waldbrände setzen dem Bestand zu. Viele Tiere werden vom Säuglingsalter an unter teils furchtbaren Bedingungen als Haustiere gehalten - ein Trauma, das Tierschützer meist erst Jahre nach der Rettung in den Griff bekommen.
Zudem müssen die Orang-Utans erst mühsam lernen, wie sie auf Bäume klettern, Nahrung finden oder ein Schlafnest bauen. Jede Auswilderung sei der Höhepunkt einer jahrelangen Reise von der Rettung über die Ausbildung bis zu dem Moment, in dem die Tiere heim in den Dschungel gebracht werden könnten, sagt BOS-Geschäftsführer Jamartin Sihite.
Lima und Gonzales waren von klein auf in Gefangenschaft gehalten und 2010 beziehungsweise 2012 von BOS und den örtlichen Naturschutzbehörden gerettet worden. Nach vielen Jahren in der Waldschule absolvierten sie und Ben die letzte Rehabilitationsphase mit Bravour. Vor allem Ben hat sich vom schüchternen kleinen Jungen zu einem selbstständigen und ungebundenen Jugendlichen entwickelt. Der Weg in die Freiheit aber ist ein langer - auch, als es endlich richtig losgeht.
Zunächst fährt der Trupp mit Jeeps sechs Stunden lang auf dem Landweg bis zu einem Camp am Flussufer. Am nächsten Morgen reisen Team und Tiere dann – gesichert mit Schwimmwesten – acht Stunden lang auf dem Wasserweg weiter bis zum Auswilderungspunkt tief im Nationalpark. Die letzten Meter müssen vier bis fünf starke Männer die schweren Boxen durch den unwegsamen und vom Regen aufgeweichten Regenwald schleppen. Ben wiegt - ohne Box - bereits 31 Kilo.
„Die 500. Auswilderung ist ein Rekord, der für Mensch, Tier und Natur matchentscheidend ist“, sagt Sophia Benz, Geschäftsführerin von BOS Schweiz. „Hinter dieser Zahl stehen 500 herzzerreißende Einzelschicksale von Tieren, die wir jeweils bis zu zehn Jahre auf ein Leben in der Wildnis vorbereitet haben.“
Dramatische Geschichten und spektakuläre Rettungen gab es reichlich über die Jahre: Da war Taymur, der nach Kuwait geschmuggelt und als lebendes Spielzeug gequält und mit Drogen vollgepumpt worden war. Im April 2017 schaffte BOS es, den etwa Zweijährigen zurück nach Indonesien zu holen. Der jüngste je gerettete Orang-Utan war 2016 der Winzling Bumi - gerade erst zwei Wochen alt und nur 1,4 Kilogramm schwer. Und nach der Corona-bedingten Zwangspause wurden Anfang 2021 zehn Orang-Utans in einer aufsehenerregenden Aktion per Hubschrauber in die Freiheit geflogen - ihre Transportboxen schwebten dabei an Seilen unter den Helis über die Baumkronen hinweg.
Und wie geht es Ben, Lima und Gonzales ein paar Tage nach ihrer Freilassung? Da sie als sehr intelligente und aktive Orang-Utans gelten, sind die BOS-Experten optimistisch, was ihre Zukunft betrifft. Alle drei begaben sich gleich auf Wanderschaft, kletterten auf Bäume, suchten und fanden Nahrung und begannen bei Dämmerung, ihr Schlafnest zu bauen. Beobachtungsteams sollen die drei jungen Wilden in den kommenden Wochen noch im Auge behalten - um sicherzugehen, dass sie sich in ihrem neuen Lebensraum gut zurechtfinden.
„Wir dürfen nicht vergessen, dass dieser feierliche Moment nur ein Meilenstein und noch keine abgeschlossene Mission ist“, betont BOS-Chef Sihite. „Es gibt immer noch Hunderte von Orang-Utans auf Vor-Auswilderungsinseln, in der Waldschule und auch hinter Käfiggittern, die alle auf die gleiche Chance warten.“
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