Sher Singh ist immer wieder außer Atem. Laufen kann er nur kurz. Dabei ist er erst etwa 50 Jahre alt, so genau weiß er das nicht. Singh lebt in der indischen Hauptstadt Neu Delhi und leidet an einer Lungenkrankheit, seit er vor rund drei Jahren in eine etwa drei Meter tiefe Klärgrube stieg, um eine Verstopfung zu beheben. Er war mit drei anderen Kollegen in der stickigen Grube, zwei von ihnen starben dort.
„Wir haben das Bewusstsein verloren“, sagt Singh im Interview mit der Deutschen Presse-Agentur. Als mögliche Ursache dafür sei später Methangas genannt worden. Bei dem gefährlichen Einsatz trug Singh nur eine kurze Hose. Eine Maske, Handschuhe oder andere Schutzausrüstung hatte er nicht.
Eigentlich ist das Putzen der Kanalisation ohne Schutzausrüstung in Indien schon lange illegal. Unternehmern, die trotzdem entsprechende Putzaufträge verteilen, drohen im schlimmsten Fall Gefängnisstrafen bis zu zwei Jahren. Soweit die Theorie.
Die Praxis sieht aber anders aus. Viele Männer arbeiten weiterhin ohne Schutzausrüstung und unter lebensgefährlichen Bedingungen in den stickigen Gruben. Wie viele es tatsächlich sind und wie viele dabei sterben - darüber herrscht Uneinigkeit. Behördenangaben zufolge starben in den Jahren 2018 bis 2022 insgesamt 330 Menschen beim Putzen von Kanalisationen ohne Schutzausrüstung. Aber gerade die Behördenangaben über Todesfälle seien viel zu niedrig beziffert, findet Bezwada Wilson, Gründer der Organisation Safai Karmachari Andolan, die sich für ein Ende von manueller Kanalreinigung in Indien einsetzt. Seiner Einschätzung zufolge sterben Tausende pro Jahr. Überprüfen lassen sich seine Angaben nicht, Wilson verweist lediglich auf entsprechende Berichte, die regelmäßig in den Zeitungen stünden.
Laut Wilson arbeiten die Kanalreiniger in der Regel für Subunternehmer, die wiederum von örtlichen Behörden mit der Reinigung beauftragt würden. Dabei würden die günstigsten Anbieter bevorzugt. Die Arbeiter erhielten selten Schutzausrüstung, ihr Tageslohn betrage gerade einmal 300 bis 400 Rupien (3,40 bis 4,50 Euro). Und in der Kanalisation begegneten die Reiniger nicht nur gefährlichen Gasen, sondern auch Insekten und Schlangen.
Gelegentlich protestieren Kanalreiniger und deren Familien für bessere Arbeitsbedingungen. So auch Amrik Singh, der an einem schwülen Nachmittag in Neu Delhi seine Tränen mit den Ärmeln wegwischt. Singh sagt, die giftigen Dämpfe hätten seinen 30 Jahre alten Sohn in der Kanalisation getötet. Er und ein paar Hundert andere Angehörige von gestorbenen Kanalarbeitern halten Fotos der Toten hoch, daneben sieht man Plakate mit Botschaften. Singhs Tochter zeigt ein Plakat, dessen Botschaft den Finger in die Wunde legt: „Durchschnittliche Lebenserwartung Mann: 72 Jahre - Kanalisationsarbeiter: 32 Jahre.“
Viele Kanalreiniger kämpfen mit Hautkrankheiten, sagt Ashok Kumar von der Nichtregierungsorganisation Dalit Adivasi Shakt Adhikari Manch, die sich in der indischen Hauptstadt für das Wohl von Kanalreinigern und Müllsammlern einsetzt. Sie litten oft an Krankheiten wie Typhus, Cholera und Tuberkulose. Die schlimmen Erfahrungen in dem Job treiben viele Arbeiter in die Alkoholsucht, erzählt Kumar weiter.
Für den kranken früheren Kanalreiniger Sher Singh, der kaum noch stehen kann, ist das Leben hart. Seine Frau arbeitet in einer Mülltrennungsfabrik und verdient rund 9000 Rupien (102 Euro) pro Monat. Damit kann sich die sechsköpfige Familie gerade noch die Miete für ihre kleine Wohnung sowie eine Mahlzeit am Tag leisten. Singhs 14-jähriger Sohn hat aufgehört, die Schule zu besuchen und versucht stattdessen, die Familie mit Malerarbeiten und anderen Gelegenheitsjobs über Wasser zu halten. Sohn und Vater haben beide Tuberkulose. „Die Familien meiner verstorbenen Kollegen erhielten je eine Million Rupien (mehr als 11.000 Euro). Ich habe nichts erhalten“, sagt Singh. Die Angehörigen von bei der Arbeit getöteten Kanalreinigern erhalten in der Regel Entschädigungen. „Ich hätte sterben sollen“, sagt Singh mit Verbitterung.
Inzwischen nimmt aber immerhin in großen indischen Städten wie Delhi die Zahl von Kanalreinigern ohne Schutzausrüstung ab. Stattdessen können sie Maschinen nutzen, die Verstopfungen raussaugen. In die Brühe rein müssen sie nur noch, wenn große Dinge wie etwa ein Zementsack stecken bleiben, sagt Vinod, der wie andere Menschen tiefer Kasten seinen Nachnamen lieber nicht nutzt, da er seinen Status in der Gesellschaft preis gibt. Vinod arbeitet in einer vergleichsweise reicheren Gegend in Delhi - und erhält von seinem Subunternehmer Halbjahresverträge und dabei 14 500 Rupien (164 Euro) pro Monat.
Aber nicht überall in Indien sind Latrinen an die Kanalisation angeschlossen. So etwa in einigen Dörfern der ärmeren Bundesstaaten Madhya Pradesh, Uttar Pradesh und Bihar. Dort müssten Putzer die Latrinen in der Regel weiter ohne Schutzausrüstung und oft nur mit den Händen putzen, sagt Wilson.
Fast alle Menschen, die Kanalisationen oder Latrinen mit oder ohne Schutzausrüstung reinigen, sind sogenannte Dalits, die man früher „Unberührbare“ nannte und die am unteren Rand des hinduistischen Kasten-Systems angegliedert sind. Sie gehören zu den ärmsten Menschen im Land und übernehmen Jobs, die sonst niemand machen will. Gleichzeitig erfahren sie und ihre Kinder Diskriminierung von Menschen höherer Kasten - etwa, indem sie nicht deren Häuser betreten oder mit demselben Geschirr essen dürfen.
Bei dem Protest in Delhi fragt die Putzfrau Mamta Chawariya: „Warum müssen unsere Kinder diese Jobs machen? Warum nicht eure?“ Sie wollten sichere Jobs.
Doch vielleicht gibt es Hoffnung für die Kanalputzer. Kürzlich erst rief das höchste Gericht des Landes Behörden dazu auf, Vorkehrungen zu treffen, damit das Kanalisationputzen ohne Schutzausrüstung aufhört.
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