Als sowjetische Truppen am 27. Januar 1945 das Konzentrationslager Auschwitz befreien, bietet sich ihnen ein Bild des Grauens: Tausende ausgemergelte Männer, Frauen, Kinder harren hier aus, viele nur noch Haut und Knochen. Dazu unzählige Leichen. Mehr als eine Million Menschen starben von 1940 bis 1945 in der Tötungsfabrik, die mit ihren Gaskammern zum Inbegriff für die Verbrechen der Nationalsozialisten wurde. Der Film „Die Ermittlung“ nach dem gleichnamigen Theaterstück von Peter Weiss gibt Einblicke in die juristische Aufarbeitung der Geschehnisse ab 1963 in den Auschwitz-Prozessen.
Der vierstündige Streifen mit prominenten Darstellern wie Rainer Bock, Clemens Schick, Tom Wlaschiha, Christiane Paul und Sabine Timoteo führt die Schrecken des Holocaust vor Augen, ist gleichzeitig aber auch hochaktuell, macht er doch deutlich, wie zerbrechlich Demokratie ist und warum sie unbedingt verteidigt werden muss, auch im scheinbar banalen Alltag. „Der Film zeigt, wie es zu Auschwitz kommen konnte, durch eine endlose Aneinanderreihung von sehr kleinen und unermesslichen Verantwortungslosigkeiten, von endlosen kleinen Entscheidungen gegen Menschlichkeit, die zusammen dann dieses große Unheil ergeben“, resümiert Clemens Schick, im Film der Staatsanwalt.
Anders als bei den Nürnberger Prozessen sitzen in Frankfurt nicht Nazi-Größen wie Rudolf Heß oder Hermann Göring in der Verhandlung, die am 20. Dezember 1963 beginnt. Es sind Menschen, die mit ihrer Arbeit die systematische Vernichtungsmaschinerie der Nazis am Laufen gehalten haben. Der Frankfurter Generalstaatsanwalt Fritz Bauer hatte ihre Anklage hartnäckig betrieben. Während viele lieber schweigen und vergessen möchten, will der Jurist einstige Unterstützer des Terrorregimes nicht unbehelligt davonkommen lassen. Mitglieder der SS-Wachmannschaften oder Lagerärzte sind ebenso angeklagt wie Robert Mulka, Adjutant des Lagerkommandanten Rudolf Höß. Der Vorwurf: Mord, oft hundertfach, oder Beihilfe dazu. Die Urteile im August 1965 werden als zu mild kritisiert, doch zumindest die Debatte über den Nationalsozialismus und seine Verbrechen ist nun eröffnet.
Peter Weiss verarbeitete eigene Beobachtungen und Prozessprotokolle zu dem Klagegesang, der 1965 uraufgeführt wurde. Sein Stück und der Film seien fiktional, aber authentisch, erklärt Andrea Löw vom Institut für Zeitgeschichte (IfZ) in München, die die Filmproduktion beraten hat. Weiss lässt neun Zeugen auftreten, im Film sind es 39. „Der Film individualisiert die Opfer also wieder mehr“, sagt Löw. „Und durch die Auswahl der Darsteller, die aus verschiedenen Ländern stammen und daher teilweise mit Akzent sprechen wird auch deutlich, dass eben auch die Opfer aus zahlreichen Ländern kamen.“
Im Film ist der Gerichtssaal eine dunkle Halle, schlaglichtartig erhellt von Scheinwerfern. In elf Gesängen schildern Zeuginnen und Zeugen unsägliche Grausamkeiten. Im „Gesang von der Rampe“ werden ankommende Häftlinge aussortiert und in den Tod oder in die Baracken geschickt. Andere Kapitel handeln von unendlichem Leid, Entwürdigungen, Folter, Krankenmorden, Arrestbunkern, Gaskammern oder Feueröfen.
„Die Ermittlung“ ist überwältigend und oft schwer auszuhalten. Das Grauen wird sichtbar auch ohne nachgespielte Szenen. Die Bilder entstehen im Kopf, wenn die Zeugen mit der eindringlichen, kraftvollen Sprache des Theaterstücks die Grausamkeiten schildern, die sie erlebt oder beobachtet haben. Für die Schauspielerinnen und Schauspieler nicht leicht: „Du weißt, die Menschen haben gelebt, die diese Texte gesprochen haben“, sagt Rainer Bock, der den Richter spielt. „Irgendwann hat immer einer mal Tränen in den Augen gehabt.“
Regelrecht wütend machen die Angeklagten, die alle Schuld von sich weisen und sich auf Befehle von oben berufen. Sätze wie „dafür war ich nicht zuständig“, „davon war mir nichts bekannt“ oder „ich kann mich daran nicht mehr erinnern“ fallen häufig, oft begleitet von spöttischem Grinsen oder hämischem Beifall der Mitangeklagten. „Dass Unwahrheiten gesagt werden, dass Leute sich als unwissend darstellen, das war schwer auszuhalten“, sagt Schick. „Für mich ist der Film so wichtig, weil er uns heute zeigt, dass es wirklich um die Übernahme von Verantwortung geht.“
Diese Verantwortung ist auch Regisseur RP Kahl („Oh Boy“) wichtig: „Es geht darum, zu wissen, was bedeutet ein totalitäres System, das mit Terror verbunden ist? Warum ist das damals möglich gewesen?“ Zudem werde es bald keine Überlebenden mehr geben, die aus erster Hand erzählen könnten. „Ich glaube schon, dass man Gegenwart und Zukunft nur gestalten kann, wenn man eine Klarheit darüber hat, was in der Historie war.“
Man müsse so darüber reden und lehren, „dass Menschen bereit sind, zuzuhören, sich damit auseinanderzusetzen und darüber nachzudenken, wohin Antisemitismus, Rassismus, Rechtsextremismus, Nationalismus und Hass führen können“, sagt Löw. Und: „Was passieren kann, wenn zu viele gleichgültig sind“.
Ein vierstündiger Film ist da keine leichte Kost, auch wenn die Zeit schnell vergeht. Auch eine dreistündige Fassung wird angeboten, zudem soll „Die Ermittlung“ als 11-teilige Serie in die ARD Mediathek kommen. Löw hofft: „Ich würde mir wünschen, dass sich all die, die sich „Zone of Interest” angesehen haben, nun auch mit diesem Film und damit sozusagen mit all dem, was auf der anderen Seite des Zaunes geschah, auseinandersetzen“.
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