Fahnenträgerin Ricarda Funk schwärmte von „etwas ganz Besonderem“, Tischtennis-Legende Timo Boll fehlte „die Megastimmung“. So gemischt die Protagonisten über die Atmosphäre bei den dritten Europaspielen im polnischen Krakau urteilten, fiel auch das sportliche Fazit aus. „Wir sind wie erwartet unterwegs, nicht schlechter, aber auch nicht besser“, sagte Chef de Mission Olaf Tabor der Deutschen Presse-Agentur, insbesondere mit Blick auf die Qualifikation für Olympia 2024 in Paris.
20 Gold-, 16 Silber- und 27 Bronzemedaillen holte das knapp 290-köpfige Aufgebot, dazu sieben Startplätze (sogenannte Quotenplätze) für Olympia. Die insgesamt 63 Plaketten ergaben Platz vier im Medaillenspiegel, nur Spitzenreiter Italien (100) sammelte insgesamt mehr. „Team D ist auf Kurs - aber es ist noch ein langer Weg durch die olympische Qualifikation und bis Paris“, sagte Tabor. Über das geringe mediale Interesse war das deutsche Team wenig amüsiert. „Das sind wir ja leider von den Randsportarten gewohnt. Wir würden uns definitiv mehr Präsenz wünschen“, sagte Kajak-Fahrerin Funk, die einen kompletten Medaillensatz mit nach Hause nahm.
Vor Ort erreichten die Fans mühelos ihre Idole. Wer wollte, fand schnell zum Athletendorf und dort mit den Protagonisten ins Gespräch. Das Henryk-Reyman-Stadion, wo die Spiele ihren Abschluss finden sollen, lag nur wenige Meter weiter, und im naheliegenden Park schwebte der Krakauer Sportsgeist ebenfalls über dem Rasen. Kickboxen, Volleyball, Fußball, gar Quidditch spielten die Städter im langen Schatten des Stadions, bevorzugt abends, wo die grüne Lunge der Stadt den Stress des Tages sanft einzuatmen schien.
Die Begeisterung der Hobbysportler sprang aber selten aufs große Ganze über. Völlig verloren wirkten die Fechter in der für sie überdimensionierten Krakauer Tauron Arena, auch beim Tischtennis, in Polen traditionsreich, blieben viele Sitze frei. „Man hat es einfach nicht geschafft, die Zuschauer in die Halle zu locken“, klagte Bundestrainer Jörg Roßkopf.
Gänzlich abseits lagen die Sportschützen in Breslau, und natürlich die Skispringer, die im traditionsreichen Zakopane die Hänge hinabflogen. Begeisterung in dem eigentlich skisprungverrückten Land löste der erstmalige Auftritt bei den Europaspielen trotz des Sieges von Lokalmatador Dawid Kubacki nur bedingt aus. Vielleicht stimmte, was Legende Sven Hannawald schon vorab gesagt hatte: „Am Ende des Tages sind im Sommer alle im Schwimmbad, essen Eis - und keiner schaut Skispringen.“
Neue Angebote wie Teqball, ein Mix aus Tischtennis und Fußball, profitierten von der einmaligen Kulisse des Hauptmarkts im Herzen Krakaus. Werbung brauchte es da keine, die Massen strömten ohnehin vorbei - und sahen viele starke Teams aus dem Osten Europas. Die deutschen Amateurkicker, deren Verband noch keine zwei Wochen alt ist, spielten wie derzeit die Profifußballer der Nation: „Gerade nicht so doll“, kommentierte ein Tribünengast. „Die Gruppe war stark, ich bin nicht fit“, sagte der bandagierte Yannic Stächlein nach dem Aus in der Vorrunde.
Wo die Elite um Quotenplätze für Olympia oder zumindest EM-Titel kämpfte, stimmte der sportliche Stellenwert. Für Roßkopf fielen die Europaspiele hingegen „definitiv nicht unter das wichtigste Turnier“ des Jahres. Und nach der Niederlage im Team-Finale der Frauen gegen Rumänien resümierte Topspielerin Nina Mittelham: „Es schmerzt schon, aber am Ende haben wir um die goldene Ananas mitgespielt.“
Auch von der Team-EM der Leichtathleten in Chorzow klangen Misstöne durch. Bei der Siegerehrung im jeden Tag fast leeren Slaski-Stadion wurde für den Gewinner Italien das Lied „Sara perche ti amo“ („Das wird der Grund sein, wieso ich dich liebe“) gespielt. Es gilt als inoffizielle Hymne des AC Milan und enthielt Passagen, die den Fußball-Stadtrivalen Inter Mailand schmähen. Die Europaspiele-Macher verwiesen auf den europäischen Leichtathletik-Verband: Er sei verantwortlich, weil die Team-EM zwar unter dem Dach des Multisport-Events stattfand, aber kein Bestandteil dessen gewesen sei.
Im Gegensatz zu den European Championships in München (2022) und Berlin (2018), wo die Leichtathletik strahlender Mittelpunkt war, ging von Chorzow kein Glanz aus. Dies galt auch für die deutschen Leichtathleten, die in der Gesamtwertung hinter Italien und Polen Dritter wurden - mit vier Einzelerfolgen in 37 Disziplinen.
„Natürlich gab es nicht nur Licht, sondern auch Schatten, aber wir sind auf dem richtigen Weg zur WM“, lautete das Fazit von Jörg Bügner, Sportdirektor des deutschen Verbandes. Deshalb war es eine durchwachsene Generalprobe für die Weltmeisterschaft Ende August in Budapest, wo Wiedergutmachung für den WM-Tiefpunkt 2022 in Eugene/USA mit nur zwei Medaillen betrieben werden soll.
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