Bei den Verhandlungen zur geplanten Reform der EU-Asylpolitik bahnt sich neuer Streit an. Im Zentrum der Kontroverse steht diesmal eine Verordnung, die es überlasteten Mitgliedstaaten erlauben würde, geltende Standards für die Registrierung und Unterbringung von Asylsuchenden in Ausnahmesituationen abzusenken. Die Bundesregierung sieht den Vorschlag, zu dem die spanische EU-Ratspräsidentschaft bis zum Monatsende eine Einigung herbeiführen will, kritisch. „Der Verordnungsvorschlag steht noch unter Prüfvorbehalt innerhalb der Bundesregierung“, teilte ein Sprecher des Bundesinnenministeriums der Deutschen Presse-Agentur auf Anfrage mit.
Die EU-Innenminister hatten am 8. Juni mit einer ausreichend großen Mehrheit für umfassende Reformpläne gestimmt. Asylanträge von Migranten aus Herkunftsländern mit einer Anerkennungsquote von weniger als 20 Prozent sollen danach bereits an den EU-Außengrenzen innerhalb von zwölf Wochen geprüft werden. In dieser Zeit will man die Schutzsuchenden verpflichten, in streng kontrollierten Aufnahmeeinrichtungen zu bleiben. Wer keine Chance auf Asyl hat, soll umgehend zurückgeschickt werden.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hatte sich in den Verhandlungen dafür eingesetzt, dass Familien mit Kindern von den sogenannten Grenzverfahren ausgenommen werden. Um den Durchbruch zu ermöglichen, musste die Bundesregierung am Ende aber akzeptieren, dass dies doch möglich sein könnte. Denkbar ist, dass das EU-Parlament hierzu noch Änderungen durchsetzt. Nun verhandeln das Europaparlament und die EU-Staaten über die Pläne, zum Schluss muss sich Deutschland noch einmal positionieren.
Der Vorschlag für die neue Krisenverordnung sieht unter anderem längere Fristen für die Registrierung von Asylgesuchen an den Außengrenzen vor, außerdem die Möglichkeit der Absenkung von Standards bei der Unterbringung und Versorgung. Zudem sollen Schutzsuchende in Krisen-Situationen nach den Vorstellungen des Rates verpflichtet werden können, sich länger als zwölf Wochen in den Aufnahmeeinrichtungen in Grenznähe aufzuhalten. Als Krisensituation soll beispielsweise eine Lage gelten, in der ein anderes Land Geflüchtete „instrumentalisiert“, so wie zuletzt an der belarussisch-polnischen Grenze.
„Da sich die Bundesregierung bei der Abstimmung über die sogenannte Instrumentalisierungs-Verordnung im Dezember 2022 enthalten hatte, blickt sie insbesondere kritisch auf die Regelungen zu Instrumentalisierungssituationen, die in der Krisenverordnung enthalten sind“, hieß es aus dem Bundesinnenministerium. Die Bundesregierung bringe sich in die Verhandlungen ein, um auf Verbesserungen der Standards für Schutzsuchende hinzuwirken und um ein für die Mitgliedstaaten einheitliches, handhabbares Verfahren in Krisensituationen zu erreichen.
„Die Innenministerin hat erst vor kurzem den problematischen Grenzverfahren und damit der Inhaftierung von Kindern und Familien zugestimmt“, sagt der Grünen-Innenpolitiker Julian Pahlke. Er befürchte, dass die Grenzverfahren, wenn eine Krise ausgerufen werde, „praktisch für so gut wie alle Geflüchteten angewendet werden“ könnten. „Durch die Krisenverordnung droht es, zu mehr Pushbacks, bis zu zehnmonatiger Haft und einer weiteren Entrechtung von schutzsuchenden Menschen zu kommen“, warnt Pahlke. Pro Asyl nannte die geplante Verordnung einen „Blankocheck für Menschenrechtsverletzungen an den Außengrenzen“ der Europäischen Union.
Auch der SPD-Innenpolitiker Hakan Demir hält nichts von dem Vorhaben. Der Bundestagsabgeordnete findet: „Die weitere Absenkung von Schutzstandards ist falsch“. Denn damit würden die Geflüchteten bestraft und nicht die Staaten, die sie „instrumentalisieren“. Außerdem könne der Rat bereits heute in einer Notlage auf Vorschlag der EU-Kommission vorläufige Maßnahmen zugunsten des betreffenden Mitgliedstaates treffen.
Spanien, das Anfang Juli die Ratspräsidentschaft übernommen hat, bemüht sich laut Bundesinnenministerium, zeitnah eine Einigung des Rates zur Krisenverordnung zu erreichen. Ein Sprecher verwies darauf, dass auch das Europäische Parlament deutliche Fortschritte des Rates bei diesem Rechtsakt erwarte. Deutschland soll bei den Verhandlungen zur Krisenverordnung dem Vernehmen nach gefordert haben, dass die Voraussetzungen für die Anwendung der Ausnahmevorschriften durch einen EU-Mitgliedstaat präziser als bislang vorgesehen gefasst werden müssten. Polen und Ungarn, die bereits die Beschlüsse des Rates vom 8. Juni kritisiert hatten, haben wohl ebenfalls Bedenken vorgebracht. Allerdings aus anderen Gründen: Ihnen gehen die vorgeschlagenen Ausnahmevorschriften nicht weit genug.
Im ersten Halbjahr dieses Jahres wurde nach Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf) für rund 150.000 Menschen erstmalig ein Asylantrag in Deutschland gestellt. Das waren rund 77 Prozent mehr Erstanträge als im Vorjahreszeitraum. Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine erhalten gemäß einer EU-Richtlinie Schutz und müssen daher keinen Asylantrag stellen.
Bis Freitag zählte das Innenministerium in Rom mehr als 75.000 Bootsmigranten, die seit Jahresbeginn an Italiens Küsten ankamen - im Vorjahreszeitraum waren es rund 31.900. Das Erstaufnahmelager auf der Mittelmeerinsel Lampedusa ist derzeit völlig überfüllt.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und der niederländische Regierungschef Mark Rutte wurden am späten Nachmittag zu einem Gespräch mit Regierungsvertretern in Tunis erwartet. Sie hatten dem nordafrikanischen Land bei einem Besuch im Juni Finanzhilfen in Aussicht gestellt. Außerdem ging es bei dem Treffen mit Präsident Kais Saied damals um Maßnahmen gegen Schleuser, die Menschen mit Booten von Tunesien in Richtung Europa schicken. Von der Leyen sagte anschließend: „Wir werden auf eine operative Partnerschaft zur Bekämpfung der Schleuserkriminalität hinarbeiten.“
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