Biker leben gefährlich – das zeigen die Unfallzahlen: So sei das Risiko, auf einem Motorrad tödlich zu verunglücken, bezogen auf die gefahrene Strecke zwanzig Mal höher als im Auto, sagt Kirstin Zeidler. Sie leitet die Unfallforschung der Versicherer (UDV) im Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV).
Klar, Biker haben keine Knautschzone und werden im Verkehr zuweilen von anderen übersehen. Dennoch: „Ganz viel Potenzial für mehr Sicherheit liegt tatsächlich bei den Motorradfahrenden selbst“, sagt Zeidler.
Zunächst die Sachlage: Laut aktuellen Zahlen des Statistischen Bundesamts ist in rund sieben von zehn tödlichen Motorradunfällen der Biker Hauptverursacher. Und: Die meisten tödlichen Unfälle passieren auf Landstraßen.
Auffällig: Etwa ein Drittel der tödlichen Motorradunfälle sind Alleinunfälle. „Das sind meist Stürze durch Kontrollverlust aufgrund verunreinigter, unebener oder nasser Fahrbahnen – oft kombiniert mit unangepasster Geschwindigkeit, wie wir aus unserer Unfalldatenbank wissen“, sagt Zeidler.
Was man im Kopf haben sollte: „Die zulässige Höchstgeschwindigkeit gilt nur unter günstigsten Umständen, doch die sind häufig nicht gegeben“, sagt die Unfallforscherin. „Auf einer kurvenreichen oder stark frequentierten Strecke in Kombination mit schlechten Licht- und Wetterverhältnissen ist ein Tempo unterhalb des erlaubten gefordert.“
Auch technische Sicherheitslösungen wie das Kurven-ABS und moderne Lichtsysteme mit Xenon und LED können helfen, Unfälle zu vermeiden.
Kurz erklärt: Ein normales Antiblockiersystem (ABS) kann vereinfacht ausgedrückt vor allem bei Geradeausfahrt einen Sturz durch blockierte Räder bei Notbremsungen verhindern. Ein kurventaugliches ABS kann noch in starker Schräglage ein Aufrichten des Motorrades und Verlassen der Fahrlinie, sowie ein Wegrutschen der Räder verhindern. Aber das auch nur innerhalb der physikalischen Grenzen, so der ADAC.
Es gibt noch weitere Systeme wie etwa die Wheelie-Kontrolle (verhindert das Abheben des Vorderrades bei zu starkem Gas geben) oder den Totwinkel-Assistenten (soll vor anderen Fahrzeugen beim Wechseln der Spur warnen).
„Aber auch die Technik kann falsches Fahrverhalten nicht vollständig ausgleichen“, sagt Kirstin Zeidler. Deshalb rät sie zu Sicherheitstrainings, idealerweise vor Beginn der Saison.
Bei Unfällen mit weiteren Beteiligten dominieren laut Zeidler Zusammenstöße mit dem Gegenverkehr – etwa beim Überholen. „Es gibt oft riskante Überholmanöver, bei denen die Situation unterschätzt oder die eigene Fähigkeit überschätzt wird“, sagt Zeidler. Hier könne man nur raten, defensiv zu fahren. „Und im Zweifel zu warten.“
Neben dem Überholen ist ungenügender Sicherheitsabstand eine typische Ursache für Unfälle. Als Faustformel gilt mindestens ein „halber Tacho“ als Abstand zum Vordermann. Bei zulässigen 80 km/h auf der Landstraße wären das mindestens 40 Meter.
Neben den Alleinunfällen sind heikle Situationen auch solche, in denen Motorradfahrende nicht ausreichend von anderen Verkehrsteilnehmern wahrgenommen werden. „Es gibt ein häufiges Unfallphänomen beim Ein- und Abbiegen“, erläutert Zeidler. Etwa, wenn ein Pkw vorausfährt, der Motorradfahrer dahinter zum Überholen ansetzt und der Pkw dann nach links abbiegt. Oder: Ein entgegenkommender Motorradfahrer wird beim Links-Abbiegen übersehen.
Im Grunde gilt laut Micha Gebhardt vom ADAC: „Am sichersten ist defensives Fahren.“ Das heißt, nicht immer stur auf Vorrechte zu bestehen, sondern auch überlegen, was die anderen Verkehrsteilnehmer wohl als Nächstes machen. Und natürlich stets bremsbereit sein.
Perspektivisch könnte in der Zukunft die Vernetzung der Fahrzeuge - die sogenannte Vehicle-to-X-Kommunikation - helfen, Unfälle zu verhindern. Dabei können auch Motorrad und Pkw direkt miteinander kommunizieren.
„Und zwar nicht über ein optisches Signal, das der Assistent erkennt, sondern indem sie beispielsweise über WLAN oder Mobilfunk verbunden sind“, erklärt Kirstin Zeidler. „In einer ersten Ausbaustufe sollen Pkw so Motorräder eher erkennen und helfen, entsprechend zu reagieren“, so die Expertin. „Noch aber ist das nicht im Markt.“
„Gefährliche Verletzungen mit lebenslangen oder sogar tödlichen Folgen sind in der Regel Kopf- und Brustverletzungen“, sagt die Unfallforscherin. Sie rät deshalb ausdrücklich neben dem vorgeschriebenen Helm auch zu spezieller Schutzkleidung fürs Motorrad wie Stiefel, Handschuhe, Jacken und Kombis mit Protektoren. Dabei „helle und auffällige Kleidung wählen, das ist besonders in der Dämmerung extrem wichtig“, sagt sie. So wird man besser von anderen wahrgenommen - und bestenfalls nie übersehen.
Auch erhältlich sind spezielle Airbags für Biker, die in Jacken oder Westen integriert sind. Aber man darf sich keinen Illusionen hingeben: „Schutzkleidung kann Verletzungen mindern, hat aber physikalische Grenzen“, so Zeidler. So haben Airbagwesten laut einer UDV-Untersuchung etwa bei Geschwindigkeiten oberhalb von 50 km/h keine nennenswerte Wirkung mehr auf die Verletzungsschwere. „Selbst eine großzügig optimierte Airbagweste kommt spätestens ab 70 km/h an ihre Wirkungsgrenze“, so die UDV-Leiterin.
Aber damit keine Missverständnisse auftauchen: Schutzkleidung ist wichtig, man sollte nicht darauf verzichten. Und: Unfälle können bei jeder Geschwindigkeit schwere Folgen haben, es gebe keine „Geschwindigkeitsschwelle“, betont Zeidler. Doch je höher das Tempo, desto größer die Wahrscheinlichkeit für schwere Verletzungen. Auch bei Kollisionen mit Autos, Bäumen oder Schutzplanken sind die Folgen schwerer.
Sie sieht auch die Verantwortlichen bei der Infrastruktur in der Pflicht: Etwa in Kreuzungsbereichen sei häufig schlechte Sicht eine Unfallursache. Wird dort freie Sicht geschaffen, sowohl für den Einbiegenden als auch jenen, der im Längsverkehr fährt, erhöht das Zeidler zufolge die Sicherheit: „Wenn ich sehe, was kommt, kann ich rechtzeitig richtig reagieren. Das heißt, Hindernisse wegnehmen, Gebüsche stutzen, Bäume beschneiden.“
Um Verletzungen zu mindern, sollten Leitplanken speziell in Kurven mit einem Unterfahrschutz versehen sein. Auch hier ist noch viel Luft nach oben.
Das Alter spielt auch eine Rolle bei der Unfallgefahr: Junge Fahrende unter 25 Jahren seien eine besondere Risikogruppe, das wisse man aus der eigenen Unfallforschung, sagt Zeidler. „Sie bringen wenig Fahrerfahrung mit und fahren häufig auch riskant. Sie überschätzen sich und schätzen Situationen noch nicht richtig ein.“
Aber auch ältere Fahrer können zur Risikogruppe werden, wenn sie nach einer langen Motorrad-Abstinenz wieder auf das Bike steigen. „Sie sind dann Wiedereinsteiger“, sagt Zeidler. Sie mögen zwar durch Autofahren im Straßenverkehr geübt sein, aber die Fahrpraxis mit dem Bike wurde jahrelang nicht trainiert. Auch denen könne man nur empfehlen: Macht regelmäßig Sicherheitstrainings, macht euch wieder vertraut mit der Maschine, probt die Situationen und überschätzt euch nicht.
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