Bis zum errechneten Geburtstermin sind es nur noch ein paar Tage. Aber wer ihre Entbindung bezahlen soll, weiß Riham nicht. Seit ihrer Flucht aus Gaza - damals im sechsten Monat schwanger - habe sie die palästinensische Botschaft in Ägypten vergeblich um Hilfe gebeten. „Ich habe nur Versprechungen bekommen, dass alles gut sein wird“, sagt die 28-Jährige, die in Wirklichkeit anders heißt. „Jetzt soll ich in einer Woche ein Kind zur Welt bringen - und es ist nichts passiert.“
Mehr als 100.000 Palästinenser sind seit Kriegsbeginn ins benachbarte Ägypten geflüchtet, meist über umstrittene Reiseanbieter - und gestrandet, die meisten davon in Kairo. Zurück nach Gaza können sie nicht. Vorwärts in ein neues Leben oft auch nicht. Die wenigsten haben die nötigen Papiere oder das Geld, um eine Wohnung zu mieten, ein Bankkonto zu eröffnen, Arztkosten zu zahlen, ihre Kinder zur Schule zu schicken.
„Ich habe kein Geld, keine Arbeit, ich werde nicht leben können“, sagt Riham. Wie alle Palästinenser in diesem Text will sie ihren echten Namen nicht in den Nachrichten lesen. Nach Kairo kam Riham mit ihrem drei Jahre alten Sohn und ihrer an Brustkrebs erkrankten Schwiegermutter. Für die Ausreise ihres Mannes, die derzeit über umstrittene ägyptische Reiseanbieter 5000 US-Dollar kosten würde, fehlte das Geld. Immerhin, die palästinensische Botschaft zahlt den dreien eine Wohnung. Noch.
Weil das Palästinenserhilfswerk UNRWA kein Mandat für Flüchtlingshilfe in Ägypten hat, sind die Betroffenen nicht als Flüchtlinge registriert. Mangels Aufenthaltsstatus bewegen sie sich in einer rechtlichen Grauzone - geduldet, im Häusermeer von Kairo mit seinen 23 Millionen Einwohnern oft unsichtbar, meist angewiesen auf sich selbst oder die Hilfe anderer Palästinenser und Freiwilliger. Die Frage nach ihrem Aufenthaltsstatus sei „die Mutter aller Probleme“, sagt der palästinensische Botschafter in Ägypten, Diab al-Louh, der dpa.
„Ich kam vor zwei Wochen an“, erzählt der 19 Jahre alte Chalid, der in Gaza einen kleinen Supermarkt betrieb. „Ich bin allein und lebe die meiste Zeit auf der Straße.“ Nach einem Bombenangriff lag er in Gaza drei Tage lang unter Trümmern, wurde schwer an Arm und Schulter verletzt und hat sein rechtes Auge verloren. „Ich habe kein Geld. Ich weiß nicht, wo ich hin soll.“ Auf seinem Handy hat er ein Video von dem Moment, als Helfer ihn aus den Trümmern ziehen, sein Gesicht ist unter Blut und Staub kaum zu erkennen.
Es sind Krebspatienten dabei, traumatisierte Kinder und Jugendliche, Menschen mit amputierten Beinen und Armen, mit Verbrennungen. Salma, die unter Trümmern schwere Quetschungen erlitt, sagt, ägyptische Ärzte reichten sie herum „wie einen Ball“. Die staatlichen Krankenhäuser sind ohnehin schlecht ausgestattet, Angestellte unterbezahlt. Eine gute Versorgung können auch sie kaum leisten.
Ein paar Autostunden entfernt tobt der Krieg. Ausgelöst durch den Hamas-Terrorangriff vom 7. Oktober auf Israel, mittlerweile mit - nach palästinensischen Angaben - 37.372 getöteten Palästinensern und 85.452 Verletzten. Der Krieg könnte, so sagte es Israels Nationaler Sicherheitsberater, noch ein halbes Jahr dauern. Oder länger.
Ein Netzwerk aus Freiwilligen versucht inzwischen, die humanitäre Versorgungslücke ein wenig zu schließen. Darunter ist die zweifache Mutter mit Vollzeitjob, die Lagerplätze für gespendete Hilfsgüter sucht. Ärztinnen, die Kollegen über Whatsapp-Gruppen um vergünstigte Behandlungen bitten. Ein Unternehmer, der in einem Kairoer Randbezirk leere Wohnungen anmietet und bewohnbar macht.
Einer der Ersten war John Flynn, bekannt als Quinn, der nach dem 7. Oktober kurzfristig aus den USA nach Ägypten reiste. Auf seine Tiktok-Videos zur Reise hätten sich etliche User gemeldet, ihm ein Bett angeboten, sein Flugticket zahlen wollen, erzählt er. Inzwischen ist er zu einer Art Graswurzel-Botschafter geworden, der alle vernetzt.
Ähnlich eine 28-Jährige, die im November ein Flugticket aus Kanada buchte. Sie dachte, sie würde einen Monat lang bleiben. Heute ist sie immer noch in Kairo und hilft dabei, Familien täglich mit dem Nötigsten zu versorgen. Inzwischen sollen es schätzungsweise 1600 Freiwillige sein, darunter auch Menschen in Irland, Malaysia oder Südafrika, die virtuell helfen, etwa Rechtsfragen zu beantworten oder Datenbanken zu pflegen.
Woher das Geld kommt, wird nicht immer klar. Ein Pakistani sagt, die 600.000 Euro für 29 Krankenwagen, die er aus Deutschland nach Gaza brachte, hätten meist „Einzelpersonen“ finanziert, teils aber auch Hilfsorganisationen. Oft kommt das Geld von Hilfswerken aus dem Ausland, teils von Online-Spendenkampagnen. „Ich habe ein Problem damit, Geld in der Hand zu halten, dessen Ursprung ich nicht kenne“, sagt eine Freiwillige.
Flynn ist schon weiter nach London, wo er 300.000 US-Dollar von Spendern sammeln will, unter anderem für den Bau eines Gemeindezentrums in Kairo als erste Anlaufstelle für Flüchtlinge aus Gaza. Die Mittel seien „komplett erschöpft“, sagt er.
Die Palästinensische Autonomiebehörde (PA), die im Westjordanland über beschränkte Macht verfügt, habe wegen „Israels Besatzung“ kein Geld, sagt Botschafter Al-Louh. „Wir sind zu 100 Prozent auf gemeinnützige Einrichtungen und Vereine angewiesen.“ In diesen Tagen bemüht er sich bei Ägyptens Regierung um ein befristetes Aufenthaltsrecht für Palästinenser, damit sie legal arbeiten und ihre Kinder zur Schule schicken können, zumindest für die Dauer des Kriegs.
Im Osten Kairos haben Freiwillige ein paar leerstehende Wohnungen in eine Kleiderkammer verwandelt, sie ziehen Jeans aus Kartons, sortieren Turnschuhe für Kinder und hängen Blusen an Kleiderständern auf. „Herzlich willkommen in der Pali Boutique“, steht auf einem ausgedruckten Zettel an der Wand, darunter die Flaggen Ägyptens und Palästinas.
„Wir sind einfach komplett überwältigt von der Zahl an Menschen“, sagt Helferin Jennifer Mina. Um hier an Kleidung oder Milchpulver zu kommen, muss man sich auf einer Liste eintragen, Wartezeit aktuell mehrere Monate. 90 Prozent der Freiwilligen seien Palästinenser, sagt Mina, die aus den USA stammt und schon lang in Ägypten lebt. „Die meiste Arbeit“, sagt sie über die Palästinenser, „machen sie selbst“.
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