Warum lassen sich viele Menschen in Deutschland nicht impfen? Ist das eine Spätfolge der deutschen Romantik? Ja, meint der Literaturkritiker Volker Weidermann.
In der „Zeit“ beschuldigte er den frühromantischen Dichter Novalis, der vor 250 Jahren (2. Mai) geboren wurde und bei Anthroposophen besonders beliebt ist: Dieser sei „schuld an der deutschen Impflücke“ und an der weit verbreiteten „deutschen Liebe zum Irrationalismus“.
Novalis-Experten wie der Trierer Literaturwissenschaftler Herbert Uerlings können darüber nur den Kopf schütteln. „Die Romantik als angebliches deutsches Verhängnis ist ein Klischee“, sagt er. Man dürfe Novalis nicht als Etikett oder Stichwortgeber benutzen, um über einen vermeintlichen „Nationalcharakter der Deutschen“ zu sinnieren.
Der aus mitteldeutschem Landadel stammende Dichter Friedrich von Hardenberg, der sich Novalis nannte, galt lange Zeit als todessüchtiger Schwärmer. In seinen „Hymnen an die Nacht“ habe er das Licht der Vernunft gescheut und die Aufklärung wieder verabschiedet, so glaubte man. Ein Visionserlebnis am Grab seiner 1797 gestorbenen Verlobten Sophie von Kühn habe ihn zu einem mystisch entrückten Poeten der Liebe gemacht.
Zwei Freunde und Mit-Romantiker, Ludwig Tieck und Friedrich Schlegel, haben dieses Klischee in ihrer Ausgabe von Novalis' Schriften 1802 in die Welt gesetzt. Erst 160 Jahre später begann die Forschung mit der historisch-kritischen Edition des Nachlasses einen ganz anderen Novalis zu entdecken.
„In der utopischen Kraft seines Denkens liegt eine Bedeutung für uns heute“, sagt Prof. Uerlings. Novalis habe gedanklich alle Grenzen überschritten, um der „dialogischen und republikanischen Vernunft zur Wirklichkeit zu verhelfen“. Politik braucht demnach auch Ethik und Gemeinsinn, um über einen bloßen Ausgleich von Egoismen hinaus eine „freie Verbindung selbstbestimmter Wesen“ zu sein.
Schon jedes einzelne Subjekt ist eine Verbindung: von Geist und Materie, Bewusstsein und Körper. Novalis erforschte diese Einheit in akribischer Auseinandersetzung mit den Hauptvertretern des transzendentalen Idealismus, Immanuel Kant und Johann Gottlieb Fichte. Doch nicht die Philosophie, sondern die Poesie war für ihn das entscheidende Medium für die Frage nach dem Absoluten. In seinem Roman „Heinrich von Ofterdingen“ machte er die „blaue Blume“ zum Symbol der romantischen „Sehnsucht nach dem Unendlichen“.
Für Novalis kann diese Sehnsucht niemals gestillt werden. Denn die Reflexion verkehrt das Unendliche zwangsläufig in ein Endliches. Das absolute Sein erscheint immer nur als relatives Bewusst-Sein. Dies wird durchschaut, indem die Grenzen der Reflexion ihrerseits reflektiert werden: Die romantische Poesie sagt auf ironische Weise, dass sie gerade durch ihr Sagen das zu Sagende verfehlt.
Novalis bezieht diesen Ansatz auch auf die „Dialektik der Aufklärung“: Die Aufklärung muss über ihre eigenen Grenzen aufgeklärt werden, um nicht - wie nach der Französischen Revolution - in den Terror umzuschlagen.
Wer dem Dichter und Denker näherkommen will, kann das Geburtshaus Schloss Oberwiederstedt im Mansfelder Land (Sachsen-Anhalt) besuchen. Es ist heute ein Museum und eine Forschungsstätte für Frühromantik. Dort werden auch andere Seiten des Multi-Talents deutlich: Als ausgebildeter Jurist beginnt er 1797 ein Studium an der Bergakademie Freiberg bei Dresden. Dort befasst er sich mit Fragen der Chemie, Mineralogie, Bergwerkskunde, Physik, Mathematik und Medizin, was sich auch in seiner Poesie vielfach niederschlägt. 1799 wird er zum Salinenassessor ernannt und tritt in die höhere Beamtenlaufbahn ein. Mit nur 28 Jahren stirbt er 1801 in Weißenfels, vermutlich an Tuberkulose.
Eine Impfung gegen diese Lungenkrankheit gab es damals noch nicht, aber erste Versuche mit Pockenschutzimpfungen. Novalis wusste, wie gefährlich Pockenviren sind, denn zwei Familienmitglieder starben daran. Die Grundidee der Impfung entspricht genau seinem Denkansatz, den er „Ordo inversus“ nannte: Man muss die Reflexion durch Reflexion aufheben, Krankheit mit Krankheit ausrotten. Nach Impfskepsis sieht das nicht aus.
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