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Veröffentlicht am 16.01.2023 20:27

Musik soll zu Zukunft in Deutschland verhelfen

In ihrer Wohnung in der Dinkelsbühler Altstadt haben es sich Andrii Miehuriw (von rechts), Nazar Shmatkov, Katerina Shmatkova und Karyna Potapkina zusammen mit Katze Alfonsina gemütlich gemacht. Vermieter Paul Röseler (links) hilft, wo er kann. (Foto: Philipp Zimmermann)
In ihrer Wohnung in der Dinkelsbühler Altstadt haben es sich Andrii Miehuriw (von rechts), Nazar Shmatkov, Katerina Shmatkova und Karyna Potapkina zusammen mit Katze Alfonsina gemütlich gemacht. Vermieter Paul Röseler (links) hilft, wo er kann. (Foto: Philipp Zimmermann)
In ihrer Wohnung in der Dinkelsbühler Altstadt haben es sich Andrii Miehuriw (von rechts), Nazar Shmatkov, Katerina Shmatkova und Karyna Potapkina zusammen mit Katze Alfonsina gemütlich gemacht. Vermieter Paul Röseler (links) hilft, wo er kann. (Foto: Philipp Zimmermann)

In Dinkelsbühl haben drei aus der Ukraine geflohene junge Leute an der Berufsfachschule Musik einen Gastschulstatus erhalten. Sie hoffen auf ein Studium und einen Neuanfang in Deutschland. Große Unterstützung erhalten sie von ihrem Vermieter.

Als das russische Militär an Heiligabend seine höllischen Weihnachtsgrüße abfeuert und die Stadt Cherson bombardiert, sitzen Katerina Shmatkova (21) und ihr Bruder Nazar Shmatkov (19) zusammen mit Karyna Potapkina (19) und Andrii Miehuriw (17) in einer kleinen Wohnung in der Dinkelsbühler Altstadt und singen gemeinsam Lieder. Gut 2100 Kilometer entfernt von ihrem früheren Zuhause versuchen die vier jungen Leute, sich nach ihrer Flucht in Deutschland eine neue Zukunft aufzubauen.

Für drei von ihnen spielt dabei das Musizieren die zentrale Rolle, denn Katerina Shmatkova, Karyna Potapkina und Andrii Miehuriw haben an der Berufsfachschule Musik in Dinkelsbühl Gastschulstatus erhalten. Bestehen sie dort ihre klassische Ausbildung, können sie an einer deutschen Hochschule Musik studieren.

„Ich möchte hier studieren und vielleicht Musiklehrerin werden“, erklärt Katerina Shmatkova, die genauso wie Andrii Miehuriw Gitarre spielt. Karyna Potapkina ist Sängerin. Während die musikalische Ausbildung in der Ukraine sehr streng ist, spielen in Deutschland auch Spaß, Bewegung und Emotionen eine große Rolle. Gleichzeitig ist alles sehr professionell, erklärt Katerina Shmatkova.

Frühere Musikschule von Bomben getroffen

In ihrer Heimatstadt studierten die drei Musikerinnen und Musiker am „Cherson Music College“, ehe die Stadt bereits Anfang März als erste ukrainische Großstadt von den Russen eingenommen wurde. Von ihrer früheren Musikschule ist nicht mehr viel übrig, obwohl Cherson inzwischen zurückerobert wurde. Sie wurde mehrfach bombardiert und beschossen, erklären die einstigen Schüler.

Fotos zeigen zerborstene Fenster und mit Einschusslöchern übersäte Wände. Wo einst Instrumente sicher und trocken verstaut waren, ist es jetzt nass und kalt. „Das da oben war mein liebstes Klassenzimmer“, deutet Katerina Shmatkova auf die Reste eines Fensters, gefolgt von betroffenem Schweigen.

Auf welch unterschiedliche Weise der Krieg ukrainische Familien voneinander trennt, wird am Beispiel der Neu-Dinkelsbühler überdeutlich: Die übrige Familie von Katerina Shmatkova und Nazar Shmatkov ist in der Region Cherson geblieben. Die Eltern von Karyna Potapkina leben inzwischen in Russland. Die 19-Jährige erklärt, dass kein Kontakt mehr besteht, weil sie Putins Krieg befürworten. Die Familie von Andrii Miehuriw floh nach Dublin. „Russische Soldaten waren in unserem Haus. Es ist alles zerstört, die Hunde sind tot“, erklärt er.

Die vier jungen Ukrainerinnen und Ukrainer kommunizieren während des Gesprächs größtenteils auf Deutsch, was verblüffend gut funktioniert. Seit August lernen sie die neue Sprache fünfmal pro Woche am Abend per Onlinekurs. Katerina Shmatkova, Karyna Potapkina und Andrii Miehuriw flohen im Frühjahr von Cherson zunächst nach Nürnberg. Dass sie schließlich in Dinkelsbühl untergekommen sind, haben sie Paul und Gisela Röseler zu verdanken, die in der Stadt Wohnungen an Musikstudentinnen und Musikstudenten vermieten.

Ende August stieß dann Katerinas Bruder Nazar Shmatkov dazu, der zwar die Leidenschaft für Musik nicht mit den anderen teilt, aber ebenfalls klare Vorstellungen hat, wie es nun weitergehen soll: „Deutsch lernen, in Deutschland bleiben, einen Beruf finden.“ In der Ukraine hätte er wohl den 100 Hektar großen Hof der Eltern samt Angestellten und Tieren übernommen, doch daran ist nach zehn Monaten Krieg nicht mehr zu denken.

Harter Prozess in den vergangenen Monaten

Überhaupt haben sich die vier Geflohenen inzwischen angefreundet mit dem Gedanken, dass es für sie vielleicht nie mehr zurückgehen wird in die Ukraine – ein Prozess, der gedauert hat, wie Katerina Shmatkova erklärt: „Am Anfang haben wir gedacht, dass der Krieg nicht so lange dauert und wir nach ein paar Monaten zurückkehren. Dann haben wir verstanden, dass wir hier bleiben müssen.“ Karyna Potapkina lobt das Bildungssystem in Deutschland. „Hier ist es für uns am besten in der aktuellen Situation“, glaubt sie.

Inzwischen fühlen sie sich wohl in Dinkelsbühl, haben bereits zahlreiche Freunde gefunden und können auf die volle Unterstützung der Röselers und deren Bekanntenkreis zählen. Paul Röseler ist dabei ohnehin viel mehr als der Vermieter. Er übernimmt eher die Rolle eines Ersatz-Großvaters, dem die vier vor Dankbarkeit um den Hals fallen, wenn er die Wohnung betritt und der die jungen Leute auch schon mal an ihren nächsten Termin beim Hausarzt oder beim Optiker erinnert.

So konnte Röseler auch den Wunsch nach einer Katze nicht ausschlagen, obwohl Haustiere in seinen Wohnungen eigentlich nicht erlaubt sind. Deshalb tauchte eines Tages auch plötzlich Katze Alfonsina auf, wie die neue Mitbewohnerin getauft wurde. Röseler findet: „Sie haben so viel Leid erfahren. Deswegen ist es wichtig, dass sie hier mit offenen Armen und offenen Herzen empfangen werden.“

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