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Veröffentlicht am 10.05.2022 10:46

Mehr politisch motivierte Taten mit diffusem Hintergrund

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) stellt den Jahresbericht zu den Fallzahlen politisch motivierter Kriminalität vor. (Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa)
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) stellt den Jahresbericht zu den Fallzahlen politisch motivierter Kriminalität vor. (Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa)
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) stellt den Jahresbericht zu den Fallzahlen politisch motivierter Kriminalität vor. (Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa)

Die Zahl der politisch motivierten Straftaten hat im vergangenen Jahr noch deutlicher zugenommen als bisher bekannt. Das gilt nicht nur für sogenannte Propagandadelikte, auch bei den Gewalttaten steigt die Kurve weiter an.

Wie aus der am Dienstag veröffentlichten Statistik des Bundeskriminalamtes (BKA) für 2021 hervorgeht, wurden im Jahresverlauf in Deutschland 55.048 Straftaten mit politischem Hintergrund gezählt. Das war ein Höchstwert und gut 23 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Die Zahl der politisch motivierten Gewalttaten stieg um 15,5 Prozent auf 3899 Straftaten.

Mit einem Plus von mehr als 147 Prozent war der Anstieg bei solchen Straftaten, die von der Polizei keiner speziellen Ideologie zugeordnet wurden, am größten. Auf Tatverdächtige, die weder als Rechte, Linke, Islamisten oder Anhänger einer ausländischen Ideologie verortet wurden, entfielen den Angaben zufolge 21.339 Delikte.

BKA-Präsident Holger Münch sieht hier einen Zusammenhang mit den Protesten gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie. Weitere Straftaten mit politischem Hintergrund, die keinem der „klassischen“ Phänomenbereiche zuzuordnen waren, seien im Umfeld von Wahlen verübt worden, sagt er.

Dazu passt, dass auch die Zahl der Straftaten gegen den Staat und seine Vertreter noch einmal stark zugenommen hat im vergangenen Jahr. Mehr als 14.000 Straftaten hat die Polizei hier registriert - ein Plus von knapp 51 Prozent. Knapp drei Viertel der Taten, die sich gegen Amts- oder Mandatsträger richteten, betrafen Tatverdächtige, die von der Polizei ideologisch keiner bestimmten Ideologie zugeordnet werden konnten.

Dass die Hintergründe für politisch motivierte Taten „vielfältiger und auch diffuser geworden sind“, ist aus Sicht von Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) ein Spiegelbild aktueller gesellschaftlicher Konflikte. Sie sagt: „Wir sehen sehr deutlich, dass wir unsere Demokratie mit aller Kraft schützen müssen.“

Die parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen-Bundestagsfraktion, Irene Mihalic, wünscht sich insgesamt eine genauere Analyse. Sie sagt, es müssten „rechtsextreme Motive, die insbesondere im Kontext der Corona-Proteste auftauchen, als solche erkannt und Straftaten entsprechend eingeordnet werden.“ Die innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, Martina Renner, glaubt, dass hinter einem Großteil der Straftaten, die bislang laut Polizei nicht zugeordnet werden können, eigentlich Rechtsextremisten stehen. Sie sagt: „Es fehlt die Bereitschaft sich einzugestehen, dass die Zahlen im Bereich der politisch rechts motivierten Kriminalität eigentlich fast doppelt so hoch ausfallen müssten und damit faktisch explodiert sind.“

Der stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Konstantin Kuhle weist auf eine andere Schnittmenge hin. Er sagt: „Viele Corona-Leugner von gestern sind die Putin-Fans von heute. Diese Überlappung müssen die Sicherheitsbehörden im Blick haben.“ Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat vielleicht schon seinen Blick in diese Richtung gerichtet. Bei einem Symposium der Behörde in der kommenden Woche soll es sowohl um die Motivation von „Demokratiefeinden“ gehen als auch um Propaganda und Desinformation - eingeladen sind unter anderem Experten für Osteuropa und die Nachfolgestaaten der Sowjetunion.

Dass die Zahl der antisemitischen Delikte um knapp 29 Prozent auf 3027 Straftaten angestiegen ist, sei „eine Schande für unser Land“, sagt Ministerin Faeser. 84 Prozent der antisemitischen Straftaten seien Rechtsextremisten zuzuordnen, sagt sie. Gleichzeitig werde ein immer lauterer islamistisch geprägter Antisemitismus sichtbar. „Jede Form des Extremismus und Antisemitismus in welchem Gewand auch immer sind völlig inakzeptabel; da darf es keinerlei Rabatt geben - weder kulturell noch für irgendein politisches Lager“, mahnt die FDP-Innenpolitikerin Linda Teuteberg.

„Insbesondere die hör- und sichtbare Judenfeindlichkeit sowie die vermehrten Angriffe auf Kommunalpolitikerinnen und -politiker, Medienschaffende und polizeiliche Einsatzkräfte sind beileibe kein vorübergehendes Phänomen mehr“, findet der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Oliver Malchow. Es sei „notwendig, die Beobachtung extremistischer Gruppierungen und Entwicklungen durch die Nachrichtendienste sowie den polizeilichen Staatsschutz zu intensivieren“. Extremistische Waffenbesitzer müssten effektiver identifiziert und entwaffnet werden.

Insgesamt wurden laut BKA die meisten Straftaten von rechts motivierten Tätern verübt. Die Polizei zählte hier knapp 22.000 Straftaten - ein Rückgang um knapp sieben Prozent. Rund 10.000 Straftaten wurden Linken zugeordnet - auch hier waren es rund 7,8 Prozent weniger als im Vorjahr. Das könnte vielleicht an der durch die Pandemie bedingt reduzierten Zahl von Veranstaltungen liegen. Dass im vergangenen Jahr so viele Straftaten mit politischem Hintergrund verübt wurden wie in den vergangenen 20 Jahren nicht, war schon im Januar durch eine parlamentarische Anfrage bekanntgeworden.

Zumindest einen Erfolg kann der BKA-Chef verkünden: ein mit Hilfe von Wissenschaftlern für die Polizei entwickeltes neues Risikobewertungsinstrument zur Beurteilung einzelner rechtsextremistischer Gefährder ist jetzt einsatzbereit. Es soll der Polizei helfen, ihre begrenzten Ressourcen für Überwachung und andere Maßnahmen auf diejenigen zu fokussieren, bei denen die Wahrscheinlichkeit, dass sie demnächst zur Tat schreiten, hoch ist. Als Gefährder bezeichnet die Polizei Menschen, denen sie schwere politisch motivierte Gewalttaten bis hin zu Terroranschlägen zutraut.

© dpa-infocom, dpa:220510-99-227069/7

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