Nach dem verheerenden Dammbruch hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Donnerstag das Katastrophengebiet im Süden seines Landes besucht. Die Mauer des Kachowka-Staudamms hatte am Dienstag aus noch ungeklärten Gründen nachgegeben. Erhebliche Wassermassen des Flusses Dnipro überfluten seitdem die teils von Russland besetzte Region Cherson.
Selenskyj machte sich ein Bild von der laufenden Massenevakuierung und traf Anwohner, Rettungskräfte und Soldaten. Russlands Präsident Wladimir Putin habe hingegen zunächst keine Pläne, in die von Russland kontrollierten Teile des Überschwemmungsgebiets zu reisen, sagte ein Sprecher in Moskau.
Die Ukraine macht - ebenso wie viele internationale Experten - Russland für die Katastrophe verantwortlich. Die Regierung des angegriffenen Landes ist davon überzeugt, dass Moskau den Staudamm sprengen ließ, um so die geplante ukrainische Gegenoffensive zu behindern. Moskau weist das zurück und schiebt Kiew die Schuld zu. Experten halten es auch für möglich, dass der von Russland seit langem kontrollierte Staudamm schlecht gewartet wurde und unter dem Druck der Wassermassen geborsten ist.
Der ukrainische Präsident besuchte auch eine Notunterkunft, in der vor der Flut gerettete Menschen unterkamen. „Wir werden Ihnen helfen und alles aufbauen, was aufgebaut werden muss“, sagt er. „Es ist wichtig, den Schaden zu berechnen und Mittel bereitzustellen, um die Bürger, die von dem Desaster betroffen sind, zu entschädigen“, sagte Selenskyj. Nötig sei auch ein Programm zur Entschädigung von Unternehmen und ihre Neuansiedlung an anderer Stelle in der Region Cherson. Selenskyjs Delegation beklagte, dass von russischer Seite auch während der laufenden Evakuierung geschossen worden sei.
Das Überschwemmungsgebiet ist laut ukrainischer Darstellung schon jetzt 600 Quadratkilometer groß - und aus dem Stausee hinter dem zertrümmerten Damm ergießen sich weiter ungehindert Wassermassen über das Land. Selenskyj veröffentlichte über seinen offiziellen Telegram-Kanal ein Video, das Häuser zeigt, von denen nur noch die Dachspitze aus den meterhohen Fluten ragt.
Gut zwei Drittel der überschwemmten Fläche sind laut ukrainischen Angaben russisch besetztes Territorium. Die Ukrainer warnen seit Tagen vor hohen Opferzahlen auf der besetzten Südseite des Flusses Dnipro, der in dieser Gegend etwa die Frontlinie darstellt. Sie halten den Russen vor, sich nicht ausreichend um die Evakuierung der Zivilisten zu kümmern und ukrainische Rettungsversuche zu torpedieren. Den Vereinten Nationen und dem Roten Kreuz warf Selenskyj vor, nicht schnell genug Hilfe im Katastrophengebiet zu leisten.
Der russische Besatzungschef der besonders betroffenen Stadt Nowa Kachowka, Wladimir Leontjew, sprach am Donnerstagvormittag im russischen Staatsfernsehen von fünf Toten und mehr als 40 Verletzten. Unabhängig ließen sich diese Zahlen nicht überprüfen.
Sergej Kirijenko, Vizechef der Kremlverwaltung, reiste derweil in die besetzte südukrainische Region Cherson, um sich ein Bild vom Hochwasser zu machen. „Um die Lage objektiv einschätzen zu können, sind wir gemeinsam (mit Kirijenko) die überfluteten Territorien von Hola Prystan und Oleschky abgefahren - hier ist die Lage am stärksten gespannt“, teilte der von Moskau eingesetzte Statthalter von Cherson, Andrej Alexejenko, auf seinem Telegram-Kanal mit. Auf den beigefügten Videos ist zu sehen, wie Kirijenko das Hochwassergebiet inspiziert und mit einem Betroffenen spricht. Nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms stehen große Flächen der Südukraine unter Wasser.
Kirijenko, der 1998 auf dem Höhepunkt der russischen Finanzkrise kurzzeitig Regierungschef in Moskau war, gilt als Verantwortlicher für die Innenpolitik in der Präsidialverwaltung - und als Kurator für die besetzten Gebiete der Ukraine. Während der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Donnerstag in die schwer vom Hochwasser getroffene Großstadt Cherson reiste, teilte der Kreml mit, dass Russlands Präsident Wladimir Putin vorerst keinen Besuch in der Flutregion plane.
Nach Einschätzung des ukrainischen Militärs und von US-Experten haben die russischen Truppen durch die Zerstörung des Staudamms Verluste hinnehmen müssen. Die Besatzer seien nicht vorbereitet gewesen auf die Folgen des Dammbruchs und hätten deshalb Soldaten, Ausrüstung und Militärtechnik verloren, teilte der Generalstab am Donnerstag in Kiew mit. Es gebe tote, verletzte und vermisste russische Soldaten. Auch Experten des US-Instituts für Kriegsstudien (ISW) stellten fest, dass durch die Fluten aus dem Stausee russische Verteidigungsstellungen in der Frontlinie vernichtet worden seien.
Die oppositionsnahe russische Recherchegruppe CIT (Conflict Intelligence Team) sieht die Ursache für die Katastrophe in einer „verbrecherischen Nachlässigkeit der Besatzer“. Die russischen Truppen hätten schon seit November 2022 den Abfluss von Wasser aus dem Stausee nicht mehr reguliert und so ein Zerbersten der Mauer in Kauf genommen. Die allmähliche Zerstörung der Staumauer sei auf Satellitenaufnahmen zu sehen und durch unabhängige Quellen belegt.
Im Fall der im vergangenen Jahr durch Explosionen zerstörten Ostseepipelines Nord Stream 1 und 2 pocht Russland auf eine Rolle bei der Aufklärung des Anschlags. Es müsse eine „transparente, internationale und dringliche Untersuchung dessen erfolgen, was jetzt vor sich geht“, sagte Peskow am Donnerstag mit Blick auf Medienberichte über eine mögliche Beteiligung von Ukrainern an dem Anschlag.
Russland beklagt seit langem, mit einer Forderung nach Aufklärung der Sprengungen an ihren nach Deutschland verlegten Gasleitungen nicht beteiligt zu werden. Moskau hatte stets Vorwürfe aus dem Westen zurückgewiesen, selbst die Pipelines gesprengt zu haben.
Die „Washington Post“ hatte berichtet, dass die US-Regierung drei Monate vor den Explosionen im September 2022 von einem europäischen Geheimdienst von einem Plan des ukrainischen Militärs erfahren habe.
Selenskyj bestritt eine Beteiligung seiner Regierung an den Sabotage-Aktionen. „Nichts dergleichen hat die Ukraine getan. Ich würde nie so handeln“, sagte Selenskyj in einem Interview von „Bild“, „Welt“ und „Politico“. Er forderte Beweise für solche Behauptungen.
Auch Recherchen der Medien NDR, WDR und „Süddeutsche Zeitung“ waren zuletzt zu dem Schluss gekommen, dass in dem Fall mehrere Spuren in Richtung Ukraine führen.
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