Eine gefühlte Ewigkeit vergeht, während die beiden Mädchen am Mikrofon die Namen verlesen. Noch einer, wieder einer. Sie lesen langsam, machen Pausen, sie wechseln sich ab. Die Menschen hinter den Namen haben die beiden Schülerinnen nie kennengelernt. Dafür sind sie noch zu jung.
Es sind die Namen der 15 Menschen, die vor 15 Jahren in der Albertville-Realschule und auch in Wendlingen bei einem Amoklauf ermordet wurden. Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und drei weitere reine Zufallsopfer, ein Techniker der psychiatrischen Landesklinik, ein Wendlinger Autoverkäufer und sein Kunde.
Der Schütze, ein ehemaliger Schüler, war damals in die Schule eingedrungen und hatte mit der Pistole seines Vaters das Feuer eröffnet, bevor er auf der Flucht drei weitere Menschen und sich selbst tötete. Winnendens Kirchenglocken ertönen Jahr für Jahr an dem Tag um 9.33 Uhr, dem Zeitpunkt, an dem der erste Notruf aus der Schule bei der Polizei einging.
Am „Gebrochenen Ring“, der mächtigen Gedenkstätte in Sichtweite der Schule, gedenken am Montagmorgen auf den Tag genau 15 Jahre später Hunderte von Menschen der Ermordeten. Die meisten Opfer waren 15 oder 16 Jahre alt. Ihre Namen sind angebracht auf der acht Tonnen schweren Stahlskulptur, die durch einen engen Bruch begehbar ist. Zu einer Seite bäumt sich der Ring symbolisch gegen Gewalt auf.
„Diese brutale Tat zeigt, dass Gewaltlosigkeit leider keine Selbstverständlichkeit ist, ja dass Gewalt unter Menschen auch ohne einen Krieg jederzeit ausbrechen kann“, mahnt Winnendens Oberbürgermeister Hartmut Holzwarth in seinen kurzen Worten nach dem Gedenken. „Auch der Ring fordert uns auf, Gewalt nicht hinzunehmen, sondern uns gegen sie aufzulehnen.“ Währenddessen bilden die jüngeren Klassen der Realschule eine Menschenkette rund um die Schule. Keiner von ihnen ist ein Zeitzeuge, aber alle wissen sie, was damals passiert ist.
Denn die Schule hat sie gut vorbereitet auf den Tag. Es sei wichtig, die Erinnerung immer wieder neu mit Leben zu füllen, sagt Schulleiter Sven Kubick. Die Schülerinnen und Schüler müssten lernen, an wen erinnert werde und warum. „Für uns ist dieser Tag kein Tag wie jeder andere“, sagt Kubick. Im Jahr nach dem Amoklauf wechselte er an die Winnender Schule nordöstlich von Stuttgart. Seither hat er miterlebt, wie sich die Erinnerung verändert. Immer öfter stellten Schülerinnen und Schüler Fragen, weil sie sich wegen ihres Alters nicht an den Tag erinnern könnten.
In der Eingangshalle ihrer Realschule geben Dutzende von gefalteten bunten Stoffblüten einen geschwungenen Weg vor, durch den Flur, die Treppe hinauf, die damals auch der Täter hochkam, bis vor den Gedenkraum der Schule, dem Raum 1.10. Hier, in diesem ehemaligen Klassenzimmer, starben damals sechs junge Menschen durch die Hand des geübten Sportschützen. 15 graue, kniehohe Gedenkpulte stehen in diesem Raum, eines für jedes Opfer. Ein großes Foto auf jedem Pult, eine Gedenkkerze, persönliche Erinnerungen, Stofftiere, hier oder dort eine frische Blume, eine kleine albanische Fahne.
Nicht nur ehemalige Schülerinnen und Schüler sind an diesem Tag hier willkommen, die Schule ist offen für jeden. Das Interesse hat sicher abgenommen, es sind viele neue Menschen nach Winnenden gezogen, andere nicht mehr dort. „Aber diese Tat hat das Leben in der Stadt geprägt“, sagt OB Holzwarth. „Der Gedenktag gibt uns die Gelegenheit zum Erinnern. Und die Möglichkeit zur Reflexion.“ Wie lange die Feier dazu noch im Winnender Kalender steht, das entscheiden vor allem die Angehörigen der Opfer. Es habe in diesem Jahr das deutliche Interesse gegeben, erneut zusammenzukommen, sagt der CDU-Kommunalpolitiker.
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