Jahrhundertelang war sie ein beliebtes modisches Accessoire und Statussymbol. Doch inzwischen scheint die Krawatte nach und nach aus den Kleiderschränken zu verschwinden. Politik und Finanzwelt haben sich vielfach bereits von ihr verabschiedet. Der moderne Mann tritt lieber lässig auf: offenes Hemd und Jeans statt Anzug und Krawatte. War es das etwa?
Die Idee, sich ein Stück Stoff kunstvoll um den Hals zu binden, ist über 2000 Jahre alt. Schon chinesische Soldaten im 3. Jahrhundert vor Christus trugen eine Art Schlips. Auch römische Soldaten schützten mit einem Tuch ihren Hals: nicht nur vor der Kälte, sondern auch vor den scharfen Kanten ihrer Rüstung. Diese Mode ging jedoch im Mittelalter weitgehend verloren. Nur in einem Land nicht: Kroatien.
Der deutsche Ausdruck „Krawatte“ stammt vom französischen Wort „Cravate“ ab, einem alten Ausdruck für „Kroate“. Während des Dreißigjährigen Krieges trugen kroatische Reiterverbände Halstücher. Ihre französischen Kameraden übernahmen diese Mode und benannten das Kleidungsstück nach den Kroaten.
Und heute? Die Krawatte sei lange der einzige Spielraum gewesen, der Männern in ihrem streng reglementierten Business-Dresscode zugestanden wurde, sagt Carl Tillessen vom Deutschen Mode-Institut (DMI). „Hier konnte „Mann” sein privates Ich aufblitzen lassen und Geschmack, Mut, Stil und Raffinesse beweisen.“
Aber das war einmal. Der französische Modedesigner Hedi Slimane habe der Krawatte in den Nullerjahren zu einem Comeback verholfen - und ihr gleichzeitig einen Todesstoß versetzt, sagt DMI-Chefanalyst Tillessen. „Indem er schwarze Uni-Krawatten populär gemacht hat, hat er die Krawatte einerseits cool gemacht und andererseits ihres Charmes beraubt.“
Bewegte Geschichte hin oder her, die Krawatte ist längst kein Muss mehr. Früher undenkbar: Mittlerweile sieht man sogar in Nachrichtensendungen Männer oben ohne, also ohne Schlips. Zumindest für den früheren Tagesthemen-Moderator Ulrich Wickert ist das noch ein No-Go: „Mit einer Krawatte verbinde ich den Respekt, den ich meinem Gegenüber zeige“, sagt der 80-Jährige. Er habe in einem sehr heißen Sommer die Tagesthemen auch mal ohne Jacke moderiert, aber nie ohne Krawatte. „Das verbat mir der Respekt gegenüber den Zuschauern.“
Wickert wurde vom DMI vor einigen Jahren zum Krawattenmann des Jahres ernannt. Wie auch Ex-Box-Weltmeister Henry Maske (59), für den die Krawatte unverändert Bedeutung hat: „Erspähe ich eine in meinen Augen ansprechende Krawatte, kaufe ich sie“, sagt er. „Den Anlass, sie zu tragen, den gibt es jederzeit.“
Modedesigner und „Shopping Queen“-Juror Guido Maria Kretschmer (58) sieht die Krawatte als Ausnahmeartikel, als „das letzte Relikt aus einer völlig anderen Zeit“. Dabei stehe der Schlips vielen gut, auch im Alter. Er selbst habe viele Krawatten im Schrank. „Mittlerweile trage ich sie kaum noch, was eigentlich schade ist, und ich hoffe, dass sie nie ganz verloren geht.“
Einer der wohl bekanntesten Krawattenträger des Landes ist Moderator Günther Jauch (67). Doch außer für seine Sendung „Wer wird Millionär“ trage er kaum noch Krawatte, sagt er. „Ich halte Krawatten inzwischen im Prinzip für entbehrlich.“
Als er zum Krawattenmann des Jahres ernannt wurde, habe man ihm versprochen, ihn fünf Jahre lang mit Krawatten auszustatten. Davon sei allerdings nie eine bei ihm angekommen, so Jauch. „Vielleicht ein Indiz dafür, dass der Krawattenzwang immer mehr aus der Mode gekommen ist.“ Laut DMI sind Krawatten kein Teil der Auszeichnung. Vielleicht habe es eine Vereinbarung zwischen Jauch und einem Krawattenhersteller gegeben. „Bedauerlich, wenn es nicht umgesetzt wurde.“
2019 zeichnete man den bislang letzten Krawattenmann des Jahres aus: Trompeter Till Brönner. In den Pandemie-Jahren sei der Branche nicht nach Feiern zumute gewesen. „Aber das kann sich natürlich auch jederzeit wieder ändern“, heißt es auf Nachfrage.
Also doch noch nicht Schluss mit des Mannes besonderem Schmuck? Die Zahlen großer Modemarken sagen etwas anderes. Von Hugo Boss heißt es, die Produktion von Krawatten sei vor allem in den vergangenen fünf Jahren zurückgegangen. Das Modehaus C&A verzeichnete mit Blick auf Krawatten und Fliegen seit 2011 einen Umsatzrückgang von etwa 70 Prozent.
Ein möglicher Grund: „Dresscodes lockern sich“, sagt Tillessen. Die Pandemie habe diese Entwicklung enorm beschleunigt. Befürworter einer strengeren Kleiderordnung hätten bis zum Lockdown argumentiert, Krawatten seien eine Respektbekundung. „Nun ist man sich in Video-Calls in Sweatshirts begegnet und hat festgestellt, dass der Respekt nicht darunter leidet.“
Um die Krawatte zu retten, müsse sie zurück zu ihrem Ursprung - als sie ein buntes Tuch gewesen sei, das man sich als Ausdruck der Lebensfreude um den Hals band, glaubt Tillessen. „Wenn sie zu diesem Ursprung zurückkehren würde, könnte sie ihr vollständiges Verschwinden sicherlich noch eine ganze Zeit lang hinauszögern.“
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