Die Serie brutaler Angriffe auf Politikerinnen und Politiker reißt nicht ab. Wie in der Nacht zu heute bekannt wurde, schlug ein älterer Mann der Berliner Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey (SPD) am Dienstagnachmittag bei einem Termin in einer Bibliothek ohne Vorwarnung mit einem Beutel, in dem sich ein harter Gegenstand befand, auf den Kopf und verletzte sie dabei leicht. In Dresden wurde die Grünen-Spitzenkandidatin für den Stadtrat, Yvonne Mosler, beim Aufhängen von Wahlplakaten angerempelt und bedroht.
In beiden Fällen konnten die Tatverdächtigen laut Staatsanwaltschaft rasch ermittelt werden. Bei dem Mann, der Giffey attackiert haben soll, gibt es den Angaben zufolge „Anhaltspunkte für eine psychische Erkrankung“. Der 74-Jährige sei bei der Polizei bereits bekannt, es gebe Erkenntnisse aus dem Bereich der Hasskriminalität, hieß es in einer gemeinsamen Mitteilung der Berliner Staatsanwaltschaft und der Polizei. „Die Ermittlungen zu dem Motiv des Beschuldigten, das dem gestrigen Angriff zugrunde liegt, dauern jedoch an.“
Der Verdächtige ist vorläufig in einer Psychiatrie untergebracht worden. „Der Beschluss zur vorläufigen Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus wurde eben antragsgemäß erlassen und in Vollzug gesetzt“, teilte die Berliner Generalstaatsanwaltschaft auf X mit.
Bundeskanzler Olaf Scholz hat die Angriffe auf die Berliner Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey (SPD) und andere Politiker als „empörend und feige“ verurteilt. „Wer sich engagiert, verdient Respekt“, schrieb der SPD-Politiker in einem Beitrag auf der Plattform X. Gewalt gehöre nicht in die demokratische Auseinandersetzung. „Die Anständigen und Vernünftigen stehen klar dagegen – und sie sind die Mehrheit!“, so Scholz.
BKA-Präsident Holger Münch äußerte sich besorgt über die wachsende Gewalt gegen Politiker und Wahlkampfhelfer. Im gesamten vergangenen Jahr habe das Bundeskriminalamt 27 körperliche Angriffe auf Politiker gezählt, in diesem Jahr schon 22, sagte der Behördenchef in Bremen. Aber auch die Zahl der Beleidigungen sei deutlich angestiegen. Von Beleidigungen seien die Grünen bundesweit am stärksten betroffen, von Körperverletzungen die AfD.
Münch plädierte mit Blick auf die Europawahl und die Kommunalwahlen in einigen Bundesländern am 9. Juni für gezielte Maßnahmen. Die Polizei könne nicht alle Politiker und Wahlkampfhelfer schützen. „Wir dürfen uns nicht der Illusion hingegeben, dass das alles mit einem polizeilichen Schutz endet.“
Giffey teilte auf Instagram mit, sie habe sich auf ein Gespräch mit der Leiterin der Bibliothek konzentriert und dann plötzlich von hinten einen harten Schlag an Kopf und Nacken gespürt. „Ein Mann hatte mich mit einem Beutel, gefüllt mit hartem Inhalt, attackiert.“ Die Senatorin nahm am Mittwoch öffentliche Termine wahr. Sie sagte vor Journalisten: „Es wird immer Situationen geben, wo Menschen zusammenkommen und wo es auch Auseinandersetzungen gibt. Sie können nicht alles absichern.“ Politiker dürften nicht so abgeschirmt werden, dass dabei die Bürgernähe verloren gehe.
Zum besseren Schutz von Politikern und ehrenamtlichen Wahlkämpfern gegen Angriffe setzen die Innenminister von Bund und Ländern auf mehr Polizeibegleitung sowie auf die Prüfung eines schärferen Strafrechts. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) und die Innenministerkonferenz der Länder forderten bei einer Videokonferenz am Dienstagabend ein Ende von Gewalt und Hetze.
Die Schalte war nach einem brutalen Angriff auf den SPD-Politiker Matthias Ecke in Dresden am vergangenen Freitag anberaumt worden. Das Bundesjustizministerium sehe aktuell keine konkreten Strafbarkeitslücken, sagte eine Sprecherin am Mittwoch. Man werde die von den Innenministern gemachten Vorschläge aber „wohlwollend prüfen“.
Der stellvertretende Vorsitzende der FDP-Bundestagsfraktion, Konstantin Kuhle, sagte der Deutschen Presse-Agentur: „Härtere Strafen sind schnell gefordert - vor allem kurz nachdem öffentlichkeitswirksame Straftaten erfolgt sind.“ Polizeibeamte vor Ort und eine gut ausgestattete, zügig arbeitende Justiz seien aber viel wirkungsvoller. „Strafrecht und Strafjustiz können nicht der Reparaturbetrieb für eine allgemeine gesellschaftliche Verrohung sein“, gab Kuhle zu bedenken.
Ähnlich äußerte sich der Deutsche Richterbund (DRB). „Mit Gesetzesverschärfungen wäre nichts gewonnen, solange es wegen großer Personallücken im Gesetzesvollzug hakt“, sagte DRB-Bundesgeschäftsführer, Sven Rebehn. Gleichzeitig betonte er, die Justiz trete der sich immer schneller drehenden „Spirale von Hass, Bedrohungen und Gewalt“ mit Nachdruck entgegen und werde die Täter schnellstmöglich zur Verantwortung ziehen.
Die Dresdner Grünen teilten unterdessen mit, Mosler und der Co-Spitzenkandidat Cornelius Sternkopf seien am frühen Dienstagabend zusammen mit Helfern unterwegs gewesen, um Plakate aufzuhängen. Schon von Weitem habe ihnen eine Gruppe rechtsextreme Parolen entgegengerufen. Ein Mann aus dieser Gruppe habe die beiden Kandidaten beiseite gedrängt, als sie gerade ein Plakat aufgehängt hatten, und das Plakat abgerissen. Das Fernsehteam der Deutschen Welle filmte ihn dabei, Mosler und weitere anwesende Journalisten fotografierten.
Wenig später kam der Mann den Angaben zufolge in Begleitung einer Frau aus der Gruppe zurück, bedrohte Mosler und forderte sie auf, das Foto von ihm von ihrem Mobiltelefon zu löschen. Ein junger Wahlkampfhelfer habe sich daraufhin schützend vor die Kandidatin gestellt. Die Frau aus der Gruppe habe Mosler ins Gesicht gespuckt.
Polizeibeamte stellten kurz nach dem Vorfall eine 24-Jährige und einen 34-Jährigen in unmittelbarer Nähe. Laut Polizei stieß der 34-Jährige die Politikerin beim Befestigen von Wahlplakaten beiseite und riss zwei Plakate herunter. Er soll die Anwesenden auch beleidigt haben. Auch die Polizei berichtet, dass die ihn begleitende Frau die Politikerin unvermittelt bespuckt habe. Gegen den 34-Jährigen werde wegen Körperverletzung, Bedrohung, Beleidigung und Sachbeschädigung ermittelt, gegen die 24-jährige Deutsche wegen Körperverletzung.
Da aus ihrer Gruppe heraus der Hitlergruß skandiert worden sein soll, werde außerdem wegen des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen gegen sie ermittelt. Beide Verdächtige blieben auf freiem Fuß.
In anderen europäischen Staaten sind brutale Attacken im Wahlkampf eher selten, mit Ausnahme von Serbien. In der Slowakei gab es im Wahlkampf für die Parlamentswahl am 30. September 2023 verschiedene Vorfälle: Am bekanntesten wurde eine Prügelei zwischen dem konservativ-populistischen Ex-Regierungschef Igor Matovic und Politikern der linkspopulistischen Partei Richtung-Sozialdemokratie“ von Robert Fico, die dann die Wahl gewann.
© dpa-infocom, dpa:240508-99-954378/26