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Veröffentlicht am 08.06.2023 11:01

Genesungsbegleiter helfen psychisch Erkrankten

Julia Kistner, Genesungsbegleiterin, steht vor dem Zentrum für Psychiatrie des Universitätsklinikums Gießen und Marburg. (Foto: Sebastian Gollnow/dpa)
Julia Kistner, Genesungsbegleiterin, steht vor dem Zentrum für Psychiatrie des Universitätsklinikums Gießen und Marburg. (Foto: Sebastian Gollnow/dpa)
Julia Kistner, Genesungsbegleiterin, steht vor dem Zentrum für Psychiatrie des Universitätsklinikums Gießen und Marburg. (Foto: Sebastian Gollnow/dpa)

Schwere Depressionen, Jobverlust, Existenzängste - Julia Kistner hat einen langen Leidensweg hinter sich. Seit sie 15 ist, zieht sich ihre psychische Erkrankung wie ein roter Faden durch ihr Leben und hinderte sie zeitweise daran, zu arbeiten und soziale Beziehungen zu pflegen.

Heute kann Kistner dennoch mit einem positiven Blick auf diese Zeit schauen - denn aus dem vermeintlichen „Makel“ der Krankheit ist für sie eine neue Chance geworden: Als Genesungsbegleiterin hilft Kistner jetzt anderen Patientinnen und Patienten, mit psychischen Problemen umzugehen und ihren Weg in ein selbstbestimmtes Leben zu finden. „Das, was immer gestört hat, wird jetzt zu etwas Wertvollem, weil ich die Erfahrungen, die ich mit Therapie und mit Klinik gemacht habe - die guten und die schlechten - jetzt weitergeben kann.“

Stigmata überwinden

In der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Uniklinikums Gießen und Marburg unterstützt Kistner Patienten in Beratungs- und Gruppengesprächen dabei, ihre jeweilige Diagnose anzunehmen, um mit der Zeit Perspektiven für sich entwickeln zu können. „In Würde zu sich stehen“ heißt das Programm - zentral geht es darum, die Teilnehmer in der Entscheidung zu begleiten, ob und wem sie ihre Diagnosen offenlegen möchten, und Stigmata zu überwinden. Kistner kennt die Hürden, die dabei zu nehmen sind. Auch sie erlebte die Angst, sich ihrem Umfeld mitzuteilen aus Sorge, nicht mehr ernst genommen zu werden, als weniger wert und weniger leistungsfähig abgestempelt zu werden. „Das zieht man sich ja auch irgendwann selber an, man ist ja Teil der Gesellschaft“, sagt Kistner. „Dieses Selbststigma löst dann auch Scham aus, also redet man noch weniger gern darüber.“ Es habe enormen Druck erzeugt, Probleme zu verbergen und trotzdem zu funktionieren.

Jeder dritte von einer psychischen Erkrankung betroffen

Klinikdirektor Christoph Mulert weiß um solche Probleme und wie belastend sie für Patientinnen und Patienten sein können. Selbst die „Volkskrankheit“ Depression löse auch heute noch teils Unverständnis, Ablehnung und Stigmatisierung in Familie, Freundeskreis oder beim Arbeitgeber aus. Auch wenn pro Jahr etwa jeder dritte Mensch in Deutschland von einer psychischen Erkrankung betroffen sei, sei es mit echter Akzeptanz noch nicht weit her, sagt Mulert. Zwar habe der Begriff „Burnout“, der Erschöpfung durch chronischen Stress etwa am Arbeitsplatz meint, ein wenig Bewegung gebracht. „Aber es gibt Bereiche bei psychischen Erkrankungen, wo es eher in die andere Richtung geht, also bei Psychosen, Schizophrenie, da sind die Scheuklappen fester geworden.“ Die gute Nachricht laut Mulert: „Menschen, die eine Depression haben, trauen sich jetzt schon eher, sich eine Behandlung zu suchen und bekommen die auch.“

Kistner entschied sich nach einem Reitunfall 2013, durch den sie ihren Beruf als Reittherapeutin nicht mehr ausüben konnte, über die sogenannte Ex-In-Bewegung eine Ausbildung als Genesungsbegleiterin zu beginnen. Ex-In steht für „Experienced Involvement“ (deutsch: Beteiligung Erfahrener). Entwickelt ursprünglich aus der Motivation, Menschen in psychischen Krisen zu helfen, ist daraus eine soziale Bewegung geworden, die unter dem Stichwort „Empowerment“ nicht nur akut Betroffene stärken, sondern auch Menschen mit Psychiatrie-Erfahrungen eine aktive berufliche Rolle in der psychiatrischen Versorgung ermöglichen will.

Stärken und Potenziale statt Defizite

Die einjährige Ausbildung ist auf Themen wie Selbstbestimmung und -ermächtigung, Hoffnung, individuelle Sinnfindung und Beteiligung am Leben in der Gemeinschaft ausgerichtet. „Recovery“-Konzept nennt man diesen Ansatz, der den Menschen mit seinen Stärken und Potenzialen statt mit seinen Defiziten in den Mittelpunkt stellt und davon ausgeht, dass Betroffene trotz anhaltender psychischer Probleme aktiv und zufrieden leben können.

Auch Kistner ist sich dank ihrer Ausbildung noch bewusster geworden, was sie bewältigen kann. Trotz ihrer Erkrankung, die es ihr phasenweise unmöglich machte, auch nur aus dem Bett oder von der Couch aufzustehen, schaffte sie einst zunächst ihr Abitur und ein Ingenieurstudium, später den Wechsel zur Reittherapie und 2016 schließlich den Neustart als Genesungsbegleiterin. In der Klinik ist sie Teil eines Teams aus Ärzten und Pflegekräften und fungiert zugleich als Schnittstelle zu den Patienten, die in ihr eine Ansprechpartnerin auf Augenhöhe finden. Schon das Formulieren eines Anliegens an den behandelnden Arzt könne für manche zu einer zunächst unüberwindlichen Hürde werden, sagt Kistner. Dann erarbeitet sie mit den Patienten Lösungen und begleitet sie bei der Umsetzung. Inzwischen hat sie sich noch zur Trainerin fortbilden lassen und ebnet so auch anderen Ex-Patientinnen und -Patienten den Weg in diesen Beruf.

Finanzierung als Hürde

Als eine Hürde dabei gilt allerdings die Finanzierung. Bisher werden die Gehälter für Genesungsbegleiter in der Regel aus den jeweiligen Budgets von Kliniken oder sozialen Trägern bestritten, Krankenkassen oder andere Träger kommen kaum dafür auf. Hierfür machen sich Ex-In-Vertreter beispielsweise im Gemeinsamen Bundesausschuss stark, der die Kernaufgaben von Genesungsbegleitern vor einigen Monaten auch in einer Richtlinie festgeschrieben hat. Rund 2000 Menschen haben sich nach Worten von Catharina Flader, Vorstandsmitglied von Ex-In Deutschland, bisher bundesweit als Genesungsbegleiter und -begleiterinnen ausbilden lassen, etwa ein Drittel von ihnen arbeite derzeit im Beruf.

Aus Sicht von Patientenvertretern reicht das bei weitem nicht aus - ein bis zwei Genesungsbegleiter pro Station alleine in den rund 800 Psychiatrien und psychiatrischen Abteilungen von Krankenhäusern wären wünschenswert, sagt Herbert Weisbrod-Frey, Patientenvertreter im Gemeinsamen Bundesausschuss. Mit der Festschreibung ihrer Aufgaben in der Richtlinie erhoffe man sich, dass Verhandlungen mit Krankenkassen über die Finanzierungen künftig leichter werden.

© dpa-infocom, dpa:230608-99-983739/2


Von dpa
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