Ist klassische Musik nur mit Drogen erträglich? Regisseur Martin Kusej hat möglicherweise bei den Salzburger Festspielen bei manchem Zuschauer diesen Eindruck erweckt, als er sein Ensemble während der Ouvertüre zu Mozarts „Le Nozze di Figaro“ („Figaros Hochzeit“) allerlei Substanzen schnupfen, schlucken, und spritzen ließ. In der ersten Opernpremiere dieser Festspielsaison verlegte Kusej das Liebes- und Eifersuchtsdrama zwischen Adel und Bediensteten in ein mafiöses Großstadtmilieu, in dem Konflikte mit Pistolen ausgetragen werden.
Am Ende der Premiere duellierte sich am Donnerstagabend auch das Publikum: Als Kusej die Bühne betrat, feuerten ihm die Zuschauer Buh- und Bravorufe entgegen. Während das Regiekonzept spaltete, ergoss sich einhelliger Jubel über die lyrischen und gefühlsstarken Interpretationen der Sängerinnen.
„Ich höre bei Mozart natürlich immer einerseits die Utopie, das Ideal, eine Art Sehnsucht, die da besungen wird, und gleichzeitig ist es immer eine Musik, die brüchig ist, die unterschwellig andere Sachen erzählt“, hatte Kusej vor der Premiere gesagt. Bei den Figuren im „Figaro“ handle es sich um Einzelkämpfer auf der Suche nach „dem schnellen Kick, der schnellen Erotik“.
Dieser Teil seines Konzepts ging auf, vor allem dank Lea Desandre, die als androgyner Page Cherubino auf der Bühne sichtlich Spaß hatte, der Gräfin Almaviva, deren Zofe Susanna sowie der jungen Barbarina die Köpfe zu verdrehen. Kusejs Entscheidung, den eifersüchtigen Grafen Almaviva, seinen Kammerdiener Figaro und seine übrigen Bediensteten in einen Mafiaclan zu verwandeln, überzeugte hingegen weniger. Denn dabei ging die Spannung verloren, die sich im Originalstoff des „Figaro“ aus den Machtverhältnissen zwischen Herrschern und Untergebenen und aus der subversiven Umkehrung dieser Verhältnisse ergibt.
In einer Szenerie aus gesichtslosen Lobbys, Nebenräumen und Hintereingängen (Bühnenbild: Raimund Orfeo Voigt) setzte Kusej stattdessen auf teils überdeutliche Symbole sexualisierter Gewalt. Neben locker sitzenden Pistolen waren etwa junge Mädchen zu sehen, die Blut auf Fenster schmieren, oder halb nackte Männer, die mit gehäuteten Rehen über den Schultern über die Bühne schleichen.
Dass Kusej nicht in der Stimmung war, einen leichtfüßigen „Figaro“ abzuliefern, überrascht kaum. Der renommierte österreichische Regisseur war zuletzt an mehreren Fronten unter Druck geraten. Im vergangenen Dezember zog er seine Bewerbung für eine weitere Amtszeit als künstlerischer Direktor des staatlichen Wiener Burgtheaters zurück, nachdem er nach eigenen Angaben das Vertrauen der Politik verloren hatte. Im Januar geriet das Burgtheater in Negativ-Schlagzeilen, als Ensemble-Star Florian Teichtmeister wegen des Besitzes von Kinderpornografie angeklagt wurde.
Unbeschwertes lieferten bei der Premiere hingegen die Sängerinnen ab. Die guatemaltekische Sopranistin Adriana González erntete während der Vorstellung spontanen Applaus für ihre stimmlich emotionsgeladene und innige Interpretation der Gräfin. Lea Desandres fein gesponnener Mezzosopran konnte sich zwar nicht immer gegen die Wiener Philharmoniker und den Originalklang-Spezialisten Raphaël Pichon am Pult durchsetzen, begeisterte das Publikum jedoch mit meisterhaften Pianissimo-Passagen und viel Spielfreude. Pichons Ehefrau Sabine Devieilhe glänzte mit ihrem hell und klar sprudelnden Sopran als Susanna.
In der Titelrolle brachte Krzysztof Baczyk seinen satten Bass erfolgreich zum Einsatz. Er schaffte es vor allem in den Rezitativ-Passagen, die Figur des Figaro sowohl wutgeladen als auch humorvoll zu charakterisieren. Bariton Andrè Schuen als Graf Almaviva brauchte hingegen bis zum vierten Akt, bis er stimmlich und schauspielerisch in Fahrt kam. Den beiden Hauptdarstellern stand Kusejs Regie mehrfach im Weg. So wurde etwa Schuen während einer Arie von einer bis auf die Unterhose nackten Statistin von den Strümpfen bis zum Anzug angekleidet - während das Publikum mit Hin- oder Wegsehen beschäftigt war, litt die Aufmerksamkeit für den Gesang.
© dpa-infocom, dpa:230728-99-570327/3