Wie ein führerloser Zug rast die grausame Sage von den Nibelungen schier unaufhaltsam auf die Katastrophe zu. Am Ende stehen Verrat, Gewalt und Mordlust. Es gibt kein Leben nach dem Heldentod.
Mit „hildensaga. ein königinnendrama“ präsentieren sich die Nibelungen-Festspiele in Worms in diesem Jahr als Schlachtfeld der Geschlechter. Wäre eine von Frauen gelenkte Welt besser, fragt Autor Ferdinand Schmalz. Gelegentlich schimmert der Ukraine-Krieg am Freitagabend durch das Drama über Drachenblut und Nibelungentreue.
Bei langsam verglühendem Abendlicht nimmt das Schicksal seinen Lauf. Brünhild, Königin von Island, wird mithilfe von Drachentöter Siegfried nach Worms verschleppt. Dort lebt Königin Kriemhild mit ihren drei Brüdern. Siegfried erhält als Lohn für seine List Kriemhild zur Frau, ihr Bruder Gunter ehelicht Brünhild.
Die Doppelhochzeit ist der Beginn einer Spirale aus Hass, die in schwindelerregendem Tempo nach unten dreht. Am Ende verbünden sich die beiden Frauen gegen das System einer vergewaltigenden Kumpelwelt.
Regisseur Roger Vontobel inszeniert „hildensaga. ein königinnendrama“ als bildstarke Variation des historischen Stoffs. Mit Bühnenbildner Palle Steen Christensen erschafft er auf der Freiluftszene eine Flusslandschaft mit Sprudeleffekten und schaukelnden Totenköpfen.
Fast während des gesamten Stücks watet, schwimmt oder taucht das Ensemble durch das nasse Element. Mal tummelt sich eine vergnügungssüchtige Gesellschaft mit Gummitieren und Badelatschen cool am Pool, dann wieder wird das Wasser zur lebensfeindlichen Moorlandschaft. Alles im Fluss, lautet die Botschaft. Bei den Proben absolvierten Schauspielerinnen und Schauspieler extra Tauchkurse. Es kommt zu überraschenden Auftritten und Abgängen in den Wellen.
Auch der Kaiserdom wird einbezogen. Auf der Fassade sind spektakuläre Videoprojektionen zu sehen - etwa das Gesicht von Schauspiellegende Mario Adorf (91), der im Kuratorium der Festspiele sitzt.
„Es gibt kein anderes mittelalterliches Epos, in dem Frauen so handlungsentscheidend mit eingreifen“, meint Autor Schmalz. Machen es Frauen besser? Auf dem Weg zur Antwort findet das Ensemble in einer der ältesten Städte Deutschlands in dem knapp dreistündigen Spektakel bloß weitere Fragen - und immer wieder grässliche Gewalt. „Dort draußen“, sagt Brünhild im Schlussmonolog, „lauern wölfische Zeiten.“
Schmalz sieht sein Stück durchaus als Kommentar zur weltpolitischen Lage. „Sätze wie der von Präsident Wladimir Putin, Russland habe in der Ukraine noch gar nicht angefangen, könnten auch im Nibelungenlied stehen“, sagt der Österreicher. Gewalt zu starten, sei „ein leichter Moment, ein verlockender roter Knopf“, sagt Schmalz. „Das Aufhören ist ein langer, schwieriger Prozess. Erst, wenn der blutige Schicksalsfaden abreißt, kann etwas Neues entstehen.“ In seinem Stück sagt Brünhild unheilvoll: „Veränderung ist immer schmutzig.“
Premiere an einem Kriegstag in Europa, das verschaffe dem Stück auch eine politische Note, sagt die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer als Gast in Worms. „Wie kann man die Kriegslogik durchbrechen? Darum geht es hier auch.“
In der Schlüsselszene treten Brünhild (Genija Rykova) und Kriemhild (Gina Haller) aus ihrer Opferrolle. Eindrucksvoll zeigen Rykova und Haller zunächst den Streit der Königinnen, der in der Originalsage genau hier spielt: auf der Nordseite des Doms. Dann aber verbünden sich die Protagonistinnen gegen die patriarchalen Machtstrukturen.
Regisseur Vontobel zeichnet ein Sittengemälde, für das Intendant und Ufa-Chef Nico Hofmann diesmal keine großen „Stars“ nach Worms geholt hat. Seit Beginn der Festspiele 2002 gab es immer wieder bekanntere Namen wie Klaus Maria Brandauer oder Jürgen Prochnow. Diesmal setzt Hofmann allein auf ein Ensemble mit großer Theatererfahrung. Die Auftritte von Rykova und Haller zählen zu den Höhepunkten des Stücks.
Stark sind auch die Männerrollen Siegfried (Felix Rech), Gunter (Franz Pätzold), Wotan (Werner Wölbern) und Hagen (Heiko Raulin) besetzt. Von den rund 1400 Zuschauern gibt es viel Applaus. Das Nibelungenlied gehört zu den Lieblingssagen der Deutschen. In Worms ist „hildensaga. ein königinnendrama“ noch bis 31. Juli zu sehen.
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